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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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dass er es bei dem Sturm verstehen könnte.
    Das Tor des Sperrwerkes war in den braunen Fluss getaucht. Sobald das gestaute Wasser das Hindernis überwinden konnte, floss es über den Wall. Rings um die
Poseidonna
setzte eine reißende Strömung ein. Sie mussten noch einen Moment warten, bis die Wassermassen einen kontinuierlichen Weg durch die Öffnung verfolgten und bis sich die verschiedenen Seiten des Sperrwerkes in der Höhe angeglichen hatten, bevor das Schiff durch die schmale Durchfahrt manövriert würde.
    «Aber warum hören Sie nicht auf? Warum haben Sie uns erst im Tank eingesperrt und dann gerettet? Nur, um uns dann zu zwingen, auf dieses Brett zu steigen?»
    «Ich wollte, dass Sie hier dabei sind!»
    «Was sind Sie eigentlich für ein Mensch?», rief Carolin.
    «Ich bin Robert Adamek. Ich war ein stolzer Mann, der viel gearbeitet hat, damit Geld für die Familie kommt. Immer gute Arbeit.»
    «Und wer sind Sie jetzt?»
    «Ich bin ein dummer Mann. Ich habe geglaubt an die falschenMenschen, und darum ist Svetlana tot. Ich bin selbst ein Verbrecher geworden. Und ich möchte, dass Sie jetzt endlich ein Foto von mir machen, von dem Robert Adamek, der ich jetzt bin.»
    Sie hielt die Kamera hoch. Also dafür war sie hier. Die Fotografin. Sie sollte einen Moment festhalten. Das Ding machte beim Einschalten ein albernes Geräusch. Es gab keinen richtigen Sucher, man musste das Motiv auf einem wackeligen Display einfangen. Robert Adamek schaute zu ihr. Seine Haare klebten nass an der Stirn, einige Tropfen hingen in den Augenbrauen. Er lächelte in die Kamera.
    «Und dann?», fragte Carolin.
    «Nun drücken Sie den Knopf dort oben!»
    «Das weiß ich auch, Herr Adamek. Aber was machen Sie dann? Wenn ich abgedrückt habe?»
    Das Schiff fuhr weiter. Man konnte spüren, wie die Strömung die riesige
Poseidonna
mit sich riss und auf den engen Durchgang des Sperrwerkes zuschob. Die Leute an Land jubelten wieder, einige hatten Signalhörner dabei und tuteten wie im Fußballstadion. Die
Poseidonna
antwortete mit einem ausgedehnten Dröhnen des Nebelhorns.
    In Carolins Rücken vibrierte der Schornstein.
    Es war klar. Er wollte springen. Es blieb ihm keine andere Möglichkeit. Perl schien nichts mehr zu registrieren, er hatte bereits aufgehört zu zittern. Vielleicht war er vor Kälte eingeschlafen. Er hatte sich halb an Adamek gelehnt.
    «Doktor Perl!», schrie Carolin. Sie zerrte an seinem Hemd. Langsam hob er die Augenlider. «Nicht schlafen, Herr Perl, ich brauche Sie!»
    Adamek lächelte nicht mehr. Er packte Carolins Arm. Das Brett schwang durch die heftige Bewegung nach vorn, und Carolin musste mit der freien Hand nach dem Seil greifen, um nicht rückwärts zu kippen.
    «Machen Sie endlich das Foto!»
    «Aber Sie werden   …»
    «Natürlich werde ich springen. Es ist alles nur noch ohne Wert. Was sollen meine Kinder zu Hause sagen über ihren Vater? Wie soll ich denn weiterleben? Ich muss springen.»
    «Und warum müssen wir dabei sein?»
    «Ich will, dass Sie zeigen meine Familie das Bild und dass Sie sagen der Zeitung, was ist passiert. Und ich will, dass Sie sind Zeuge, ich war ein Mann, der genau wusste, was er tun muss.»
    «Sie müssen es nicht tun!»
    «Wenn ich springe, dann sehen es alle Leute. Schauen Sie doch: tausend Menschen. Und dann kann niemand mehr ein Geheimnis machen von Familie Adamek.» Er warf das Kabel, an dem der Aufzugschalter angebracht war, nach unten. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, auf normalem Wege hinabzukommen. Sie mussten auf Hilfe warten.
    Perl war wieder eingenickt. Carolin stieß ihm heftig in die Seite. «Halten Sie ihn fest!», sagte sie laut und hoffte, dass der Wind die Worte nicht zu Adamek hinüberwehte. «Halten Sie ihn verdammt nochmal fest!»
    Endlich schien Perl zu begreifen. Er packte Adamek von hinten.
    «Lassen Sie das. Ich werde Sie mit hinunterreißen!»
    Carolin erfasste die Szene mit dem Display der Kamera. Adamek schaute zu ihr. Wieder dieses Lächeln. Als würden sie ein Passfoto knipsen. Sie drückte den Auslöser. Der Apparat gab ein künstliches Kameraklacken von sich. Kurz hielt sich das eben aufgenommene Foto auf dem Bildschirm. Robert Adamek sah traurig aus. Die Pfeiler des Sperrwerkes waren hinter ihnen sichtbar. Sie hatten das Hindernis passiert. Sie hatten die Ems hinter sich gelassen. Vor ihnen lag der Dollart.
    «Springen Sie nicht!», sagte Carolin, die versuchte, beruhigend zu klingen.
    Doch es hatte keinen Sinn. Adamek stellte sich aufrecht
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