Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
Fensterputzer hinüber.
    Der zeigte abermals keine Reaktion. Wohin blickte er nur?
    Die
Poseidonna
musste noch einen kurzen Augenblick pausieren, bis das breite Tor des Sperrwerkes komplett geöffnet und der Weg in den Dollart frei war. Von dort waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Nordsee, bis nach Eemshaven. Nur noch wenige Kilometer bis zum Ende der Reise. Wie lange würden sie hier sitzen müssen? Wie lange könnten sie die Kraft aufbringen, sich hier oben zu halten?
    Carolin folgte dem Blick des Fensterputzers. Er sah ins Nichts.
    Dann wandte er sich mit einem Mal in Carolins Richtung. «Machen Sie ein Foto von mir? Sie sind doch die Fotografin!»
    «Ich habe keine Kamera dabei!»
    «Aber ich habe.» Er streckte ihr einen kleinen, schwarzen Fotoapparat entgegen. Eine billige Digitalkamera. «Sie gehörte Grees.» Er zuckte die Schultern und schaute wieder weg. «Er hat gesagt, er wollte Atrium fotografieren, weil er wusste, dass jemand das Wasser von Brunnen anstellt. Ich habe ihn da gesehen. Wir haben so gestritten. Ich war so böse, weil Ihr Kollege nicht gekommen. Er hat versprochen. Und dann kommt nur diese Grees, ausgerechnet diese Schwein. Ihr Kollege hat mich verraten. Warum hat er das getan?»
    «Ich habe keine Ahnung. Woher soll ich es wissen. Ich habe Leif Minnesang heute noch nicht gesehen.» Carolin verstand nicht viel von dem, was der Mann im grauen Overall erzählte. Doch sie verstand immerhin schon mehr als noch vor einer Stunde. Auf dem Weg vom Ballasttank hierher, als Adamek ihr mehr vorsichtig als brutal ein Messer an den Hals gehalten hatte, hatte sich kurz die Gelegenheit ergeben, dass Perl ihr schildern konnte, was seiner Meinung nach hinter der Sache steckte. Es hatte vor einigen Wochen ein Missverständnis gegeben. Ein tödliches Missverständnis. Doktor Perl war nicht informiert worden, als eine der illegalen Mitarbeiterinnen aus Polen an einer Blinddarmentzündung erkrankt war, weil er genau zu diesem Zeitpunkt Wolfgang Grees’ Arm nach einem Unfall versorgt hatte. Den Notruf des polnischen Vaters hatte man vom Büro aus gar nicht erst zu ihm durchgestellt. Vom Tod des jungen Mädchens hatte Perl erst viel später und auch erst durch seineFrau erfahren. Der polnische Vater hatte in seiner Verzweiflung privat bei Schmidt-Katter angerufen, und so wurde der tragische Fall bekannt. Es hatte einen Streit deswegen gegeben. Während Frau Perl die Sache wieder gutmachen wollte, sofern dies überhaupt jemals möglich gewesen wäre, hatten Schmidt-Katter und seine Frau darauf bestanden, im Interesse der Werft alles zu vertuschen. Aus diesem Grunde hatten sich die beiden Schwestern beim Champagnerempfang wohl auch so unterkühlt angesehen. Dies alles leuchtete Carolin ein.
    Sie war jedoch noch nicht dazu gekommen, sich die Tragweite dieser Geschichte vor Augen zu führen. Wie denn auch? Sie saß mit zwei Männern auf einem Holzbrett, welches ganz nah am Himmel baumelte. Wer sollte da einen klaren Gedanken fassen?
    «Was wollen Sie denn?» Carolin wurde langsam ungeduldig, ungeduldig vor Angst.
    «Machen Sie Foto von mir! Ihr Kollege hat gesagt, ich bekomme Sicherheit von Ihrer Zeitung, wenn ich Geschichte erzähle. Also machen Sie Foto und ich erzähle.»
    «Aber bei Mord gewähren wir keine Sicherheit!» Er erwiderte nichts. «Waren Sie heute Morgen mit Leif Minnesang verabredet? Um halb neun?»
    «Ja.»
    «Mein Kollege hat es mir erzählt, er wollte kommen, ganz bestimmt. Aber es ist ihm etwas passiert.»
    «Was ist passiert?»
    «Ich weiß nicht, ich denke, er ist tot. Ich habe ihn gesehen, er hatte ein Tuch über dem Gesicht.»
    «Warum hat er diesen Grees geschickt?»
    «Das hat er nicht, ganz sicher. Es war ein dummer Zufall. Der Amerikaner wollte mir das Atrium zeigen, und Grees musste gewusst haben, dass man dafür so gegen neun denBrunnen anstellt. Bestimmt wollte er wirklich nur fotografieren.»
    «Ich habe Grees getötet. Er ist heruntergefallen, weil wir uns gestritten haben. Jetzt ist er tot. Genau wie meine Tochter.» Der Mann hielt sich am Brett fest.
    «Und? Geht es Ihnen jetzt besser? Tut es jetzt weniger weh, dass Ihre Tochter gestorben ist?»
    «Nein. Es geht mir genauso schlecht. Es war keine gute Idee. Ein zweiter Tod teilt nicht den Schmerz in zwei Stücke. Aber ich habe es ja auch nicht geplant. Nicht richtig. Ich war an Bord, weil ich irgendwie wollte Rache. Aber dass er dann gefallen ist, war nur der Moment.»
    «Der falsche Moment», sagte Carolin, zu leise, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher