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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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Kind los, du Untier, du Schwein.«
    Tränen strömen über ihr Gesicht, warme, befreiende Tränen.
    Schwer atmend kommt er hoch, gibt Martie frei, dreht sich zu ihr um. Seine Augen sind blutunterlaufen.
    »Hau ab, du!« Er holt aus, um sie zu schlagen. Sie duckt sich, der Schlag durchschneidet die Luft.
    »Lauf weg, Martie, lauf weg!« Aus den Augenwinkeln sieht sie Martie vom Tisch rutschen, unschlüssig stehenbleiben.
    »Lauf«, weint Gaby, »lauf!« Dann trifft sie der erste Schlag. Sie taumelt gegen den Tisch. Martie schreit auf, läuft weg. Die Eingangstür fällt ins Schloß. Gabys letzter, bewußter Gedanke. Die Tür ist zu. Niemand kann ihr zu Hilfe kommen.

    Mutti unterschreibt den Antrag auf Volljährigkeit.
    Dr. Rehbein hat es ihr geraten.
    »Gaby erstattet sonst Anzeige wegen Mißhandlung
    und...«
    Er spricht nicht weiter. Er hat nichts aus Gaby herausbekommen, sah nur zum zweitenmal das zusammengeschlagene Stück Mensch.
    Er erinnerte sich plötzlich überdeutlich an die kleine, ekzembedeckte Gaby. Ein nervöses, unglückliches Kind. Ich habe es nicht gesehen. Es geschah genau vor meinen Augen.
    »Wenn Sie nicht unterschreiben, werde ich selbst die Behörde einschalten«, fuhr er mit fester Stimme fort. »In dieses Haus kehrt Gaby nicht mehr zurück.«
    »Dann kommt sie eben in ein Heim«, begehrte Pappi auf.
    Dr. Rehbein sah starr zu Mutti.
    »Wenn Sie nicht unterschreiben, sorge ich dafür, daß Ihr Mann ins Gefängnis kommt. Nicht nur wegen Mißhandlung.«
    »Sie lügt, alles, was sie sagt, ist gelogen.« Mutti wischte sich über die trockenen Augen. »Sie hat ihn angegriffen. Sie war eifersüchtig auf die kleine Martie.«
    »Soll ich Martie hierher holen?« Dr. Rehbein legte das Formular vor Mutti. »Sie wissen doch, daß Herr Thormälen gedroht hat, Ihren Mann umzubringen, wenn er noch einmal in die Nähe seiner Tochter kommt?«
    Mutti sah den Arzt an, hilflos und verzweifelt.
    »Wie soll ich denn weiterleben, wenn ich das glauben würde, was Sie sagen? Dann könnte ich mich ja gleich aufhängen.«
    Pappi sagte nichts.
    Dr. Rehbein gab Mutti den Füllfederhalter in die Hand.
    »Es dreht sich jetzt nicht darum, wie Sie weiterleben. Es dreht sich darum, daß Gaby weiterlebt. Und dazu braucht Sie Ihre Unterschrift.«
    Mutti sah zu Pappi, nur ganz kurz, dann unterschrieb sie.
    »Daß Gaby mir das antut, nie werde ich ihr das verzeihen.«
    Dr. Rehbein nahm den Antrag, blies Muttis Unterschrift trocken, faltete das Papier zusammen.
    »Ja«, sagte er, »das glaube ich Ihnen. Aber in Augenblicken der Verzweiflung zählt nicht, was richtig oder verkehrt ist. Es zählt nur, was uns weiterleben läßt.«

Nachwort

    Gaby ist heute eine erwachsene Frau. Ihre Mädchenkindheit, die sie hier beschreibt, spielte Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren. Auch wenn die Fünfziger heute wieder „in“ sind, was Mode und Musik betrifft, so weiß doch heute jedes Mädchen und jeder Junge, daß es eine schwere — und auch eine muffige Zeit war. Tauschen möchten wir alle nicht. Die ersten Jahre unmittelbar nach Kriegsende können sich die, die heute jung sind, sicher nur schwer vorstellen. Was es heißt, nicht genug zu essen zu haben und außerordentlich eingeschränkt und ohne jeden Komfort zu leben, das wird aus Gabys Geschichte auch deutlich. Und was dann eine Tafel Schokolade für ein Glück, für einen Genuß bedeutet! Wir verstehen, daß Gaby sofort dem Mann dankbar ist, der so etwas möglicht macht. Aber es geht nicht nur um Schokolade, es geht auch um das Glück — vor allem das Glück der Mutter. Daß sie nach dem Tod des Mannes wieder einen gefunden hat, der sich um sie kümmert, der sich sorgt und Verantwortung übernehmen will, der nach außen hin wieder zeigt, daß ein Mann im Haus ist, daß die Familie wieder vollständig ist — das hatte in dieser Zeit eine große Bedeutung. Und wir sollten nicht denken, daß so etwas heute bedeutungslos geworden wäre. Daß Frauen alleine nicht glücklich sein können und Kinder einen Vater brauchen, das gilt auch in unserer Zeit.
    Zuckerpüppchen gibt es auch heute — ebenso wie zu Gabys Kinderzeit. Heute sagt man vielleicht etwas anderes, nicht mehr „Zuckerpüppchen“, heute sehen die Mädchen anders aus, haben andere Freiheiten und Gewohnheiten. Und doch sind viele von ihnen ein Zuckerpüppchen, wie Gaby es war — ein kleines Mädchen, das von seinem Vater oder Stiefvater geliebt wird und verwöhnt, das ihn auch sehr lieb hat und stolz darauf ist, daß
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