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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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weiß es nicht genau, er hat mit Danilow geredet.«
    »Ist der auch tot?«
    »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit der Überfall angefangen hat, ich werde ihn suchen.«
    »Egal«, sagte sie und wandte sich von ihm ab.
    Maxim hatte einmal behauptet: »Auch wenn der kleine Hungerhaken sterben sollte, auch wenn jeder Mensch, denn du gekannt hast, verschwunden ist, wirst du immer noch eine Überlebensmaschine bleiben. Du wirst sehen.«
    Es gab einen Teil in ihr, der ihm glaubte, einen Teil, der Maxim Podolski immer geglaubt hatte.
    Ringsum waren mit einem Mal andere Stimmen zu hören – am Terespoler Tor werde die Festung von Westen gehalten, einige Hundert Soldaten hätten sich dort verschanzt und würden die Deutschen zurückschlagen. Soldaten, die eben noch apathisch am Boden gelegen hatten, kamen auf die Beine und luden ihre Gewehre, verteilten Handgranaten. Frauen und Kinder drängten sich um sie und spornten sie an. In einer Reihe stürmten sie nach oben, und Grigorjan, mit neuem Verband, schloss sich ihnen an.
    »Auch am Kobrin-Tor wird Verstärkung benötigt«, gellten Stimmen.
    »In der Hölle auch, ihr Trottel!«, brüllte eine heisere Stimme zurück, und bitteres Gelächter erhob sich ringsum.
    In den Höhlen keimte neue Hoffnung, Menschen steckten einander mit ihrem Tatendrang an, Aufgaben wurden verteilt, Karten ausgebreitet, die Stimmung des verzweifelten Sich-Abfindens war verschwunden.
    Plötzlich erwachte auch ihr Überlebensinstinkt: Wenn Vater und Mutter aus dem Gulag freikamen, würden sie wenigstens ein Kind wiederfinden wollen. Selbst wenn in ihr ein Boris Godunow und ein wenig Pawlik Morosow steckte, so war sie trotz allem ihre einzige Tochter. Sie würde ihnen Enkel schenken, Enkelkinder waren auch ein bisschen wie eigene Kinder. War es nicht erstaunlich, dass sie in dieser zerbombten und umstellten Festung noch immer glaubte, wählen zu können, ob sie leben oder sterben wollte?
    Sie kroch nach draußen. Die Gewissheit, dass ihre Wahl schon vor langer Zeit erfolgt war, ließ sie ruhige Gelassenheit empfinden. Alles, was in den letzten Jahren geschehen war, erschien ihr wie ein geringfügiges, mitunter belustigendes Missgeschick. Es gab fürwahr größere Tragödien: Schon seit Jahren zählten alle die Verhafteten, die Verschwundenen und Toten. Und jetzt würden sich die Toten von hier bis nach Kobrin türmen, bis nach Minsk, vielleicht gar bis Leningrad.
    Sie stand im Freien. Von Westen näherte sich ein Geschwader deutscher Flugzeuge. Langsam ging sie zur Mitte des Platzes. Um sie herum war kein Leben mehr, lagen nur Leichen verstreut. Die Flugzeuge kamen gemächlich näher, das Rattern ihrer Bordwaffen klang wie das Prasseln von Regentropfen auf den Dächern der Häuser. Hinter ihnen zeigten sich die ersten Strahlen der Sonne, warfen den graublauen Glanz des Sommers auf ihre Tragflächen. Geschossgarben aus einem Maschinengewehr wanderten auf sie zu, ihre Hitze eilte ihnen voraus, erreichte bereits ihren Körper. Sie blieb stehen, bog die Schultern nach hinten und hob die Augen zum Himmel.
    »Nadjeschda Petrowna« – sie hatte heimlich einen Brief an sie in Maxims Koffer geschmuggelt –, »du schreibst Verse über mich, nennst mich ›Boris Godunow‹ und ›die schöne Zwillingsschwester von Pawlik Morosow‹. Alle rühmen die Veränderung, die sich an dir vollzogen hat, aber ich habe verstanden: Du schreibst diese Gedichte für mich, und vielleicht auch für die Toten und die Inhaftierten. Ich bitte dich nur um eines: Sollte ich hier sterben und Kolja am Leben bleiben, sorge für ihn. Deine Position ist jetzt stark, du könntest ihm eine Art Vormund sein.«
    Das Rattern der schweren Maschinengewehre wurde ohrenbetäubend. Sie schaute hoch, eine Wolke aus rostrotem Staub erhob sich vor ihr, darin die Reflexe der Sonne und die Tragflächen der Flugzeuge. Für einen Moment schloss sie die Augen, und als sie sie wieder aufschlug, kräuselte sich dort schwarzer Rauch und schien Worte zu formen. Sogleich erkannte sie Nadjas Handschrift:
     
    Du wirst nicht ohne ihn sterben.
    Was überdies nichts ändert, du Törin.
    Du nennst diese Anhäufung von Lügen und Niedertracht, die wir sind – »Leben«?
    Tag-Nacht, Winter-Sommer – das ist nur Zeit unter dem Himmel des Verderbens,
    Zeit, die auf uns lastet,
    an die wir gefesselt sind wie Hunde an ihre Hütten.
    Dies hast du gewiss begriffen:
    Wir alle leben schon seit langem nicht mehr.

Über den Autor
    Nir Baram
    Nir Baram, 1977 in Jerusalem
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