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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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verneinte. Frau Stein fragte, ob sie gut versorgt werde, und seine Mutter flüsterte ein »Ja«, das recht eigentlich ein »Nein« war. Frau Stein ergriff ihre Hand und murmelte wieder und wieder ihren Namen: Marlene, Marlene.
    Thomas stellte sich vor, wie sie ganz Berlin durchquert hatte, um ihre ehemalige Dienstherrin auf dem Krankenbett zu sehen. Noch etwas abgehetzt erzählte sie gerade seiner Mutter: »Heute Morgen habe ich zufällig Herrn Stuckart getroffen. Er drehte den Kopf zur Seite, als hätte er mich nicht gesehen. Ich sagte mir, in Ordnung, schließlich bin ich es ja schon gewohnt, auf alte Bekannte zu stoßen, die winken und sich dann eiligst davonmachen, ja manchmal auch so tun, als hätten sie mich gar nicht gesehen. Aber an dem Verhalten von Herrn Stuckart war etwas Sonderbares. Ich blieb neben ihm stehen und fragte: ›Mein Herr, gibt es etwas, das Sie mir sagen möchten?‹ Beim Namen nannte ich ihn nicht, er hätte also immer behaupten können, er kenne mich nicht. Er schlug die Augen nieder und sagte: ›Frau Heiselberg ist sehr krank.‹«
    Seine Mutter flüsterte etwas, das nicht bis zu Thomas drang, der an der Tür stehen geblieben war, und Frau Stein nickte verständnisvoll. Thomas betrachtete sie voller Abscheu: All das war ihm nur zu vertraut. Die unzähligen Morgen, an denen die beiden einander inniglich zugetan im Schlafzimmer gesessen hatten und Geheimnisse austauschten. Und jeder, der sich ihnen näherte, musste sich als Eindringling fühlen. Jetzt ordnete Frau Stein die Kissen unter dem Kopf seiner Mutter, strich ihr über das Haar, beugte sich dann hinab und vergrub ihr Gesicht an ihrer Brust. »Marlene, wie konnte es so weit kommen …«, flüsterte sie. »Wie?«
    Mit welcher Leichtigkeit die beiden Frauen den Abstand überwanden, der sich in den letzten acht Jahren zwischen ihnen gebildet hatte. Als wäre ein Vorhang beiseite gezogen und eine alt vertraute Kulisse enthüllt worden: Da waren sie wieder, eine verträumte Herrin, die oft fernab der Welt zu leben schien, und eine Hausdame, die ihre beste Freundin geworden war und langsam aber stetig ihre Pflichten übernommen hatte. Jetzt schien es, als lehnten sie sich dagegen auf, dass ihnen nur noch so wenig Zeit geblieben war, als trauerten sie um die vergangenen Jahre und jede Stunde, die verrann.
    Thomas ging zurück in den geräumigen Salon. Auf Geheiß seiner Mutter waren die schweren Samtvorhänge stets zugezogen. Er knipste eine Stehleuchte an, die neben einem mit Daunenkissen bedeckten Sofa stand, und ließ seinen Blick über die Kunstgegenstände wandern – ein Auguste Rodin, der Arc de Triomphe in Porzellan, ein kleiner vergoldeter Buddha, das Geschenk eines Gelehrten, den seine Mutter als junge Frau getroffen und unter dessen Einfluss sie damals begonnen hatte, sich für fernöstliche Religionen zu interessieren. Über der Buddhastatue stand ein Bildnis von Ernst Jünger auf dem Bord, versehen mit einer Widmung, »Für Marlene, deren Neugierde so wundervoll ist«. Künstliche Pflanzen umgaben den gewölbten Kamin, der mit Delfter Fayencen verziert war. Immer schon hatte ihm die Einrichtung dieses Salons missfallen, dieser Eklektizismus, der den weiten geistigen Horizont der Hausherrin illustrieren sollte.
    Er beschloss, das Geschehen im Schlafzimmer zu ignorieren, setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm letzte Korrekturen an der Rede vor, die er am Abend bei einem Treffen mit den Direktoren von Daimler-Benz halten würde. Im Laufe des Abends sollten diese Herren begreifen, dass die Milton-Group die Antwort auf alle ihre geheimsten Wünsche darstellte. Wie schade, dass die kleine Frau Stein nicht jene Zeitungsmeldungen kannte, in denen sein Name zuletzt erwähnt worden war (aus irgendeinem unerfindlichen Grunde lasen seine Bekannten niemals am richtigen Tage die richtige Seite in der richtigen Zeitung), und somit nichts von seinen Erfolgen wusste.
    Zu der Zeit, als sein Vater und dessen Kollegen gegen ihre Entlassung demonstrierend durch die Straßen Berlins marschierten, hatte er für seine eigene Karriere einen höchst eigenwilligen Plan gefasst. Eines Tages, etwa zwei Jahre nach Beendigung seines Studiums, hatte er in der Zeitung gelesen, die Milton-Group für Marktforschung plane, eine Dependance in Deutschland zu eröffnen. An diesem amerikanischen Unternehmen, das Niederlassungen auf der ganzen Welt unterhielt, aber nur eine einzige in Europa – und zwar in England –, hatte sich seine Phantasie bereits
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