Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
Straße – überall, wo Menschen sich aufhielten – war immer dasselbe. Sonderbar, wieso war ihm bis jetzt nie aufgegangen, dass sich das leere Geschwätz von einem Ort zum nächsten reproduzierte.
    Eines Tages, als der Schmerz darüber, seine Tage unter lauter Jammergestalten zu vertun, am ganzen Körper brannte, verfiel Thomas auf ein neues Verhaltensmuster: Er klagte gemeinsam mit den Menschen, tröstete sie, prophezeite einen triumphalen Sieg und deutete im selben Atemzug die unabwendbare Niederlage an, pries den Führer und säte Zweifel hinsichtlich des Ausgangs des Krieges. So fand er nach einigen Monaten der Wanderschaft einen Zeitvertreib, der ihm Genugtuung verschaffte – als Gaukler landauf, landab Verwirrung zu verbreiten. Dazu entwarf er eine Reihe von Argumentationen, von denen jede einen fundamentalen Widerspruch in sich trug, bis die Leute nicht mehr verstanden, worum es eigentlich gegangen war. In Baden-Baden verstörte er eine kleine Schar von Bewunderern mit gewaltigen Zahlen über die Truppenstärke der feindlichen Armeen und spottete zugleich über den Pöbel, der sich Rote Armee nannte; in Dessau lud ein Restaurantbesitzer seine Freunde zu einer geheimen Versammlung ein, auf der Herr Heiselberg über die Zukunft des Krieges referierte, und nachdem der Beifall verklungen war und er das Restaurant verlassen hatte, hörte er sie drinnen streiten, ein jeder versuchte, den anderen mit seiner Deutung des Gehörten zu übertönen. Bei einem Abendessen im Haus eines wohlhabenden Gutsbesitzers in Lübeck erzählte er, in Dortmund habe man eine wertvolle Statue eingeschmolzen, weil das Metall für die Kriegsmunition benötigt wurde, und am nächsten Tag habe am verwaisten Sockel der Statue ein Zettel mit einem Gedicht gehangen: »O weh dem Volk, das diese sich erkor / Wurm, Spiegelberg und Franzens Mohr«, (den jungen Leuten erklärte er, die Schurken hätten allem Anschein nach Goebbels, Göring und Hitler gemeint), und in ebendiesem Stadtteil hätten Frauen ihre Pelzmäntel für die Soldaten gespendet und Liebesbriefe an den Führer verfasst.
    »Welch stupende Siegesmoral, nicht wahr? Doch leider erwartet uns der Untergang«, sagte er, ehe er sich davonmachte und ein bedrücktes Schweigen hinterließ.
    Das Seltsame war, dass er gar nichts Neues sagte, sondern sich wie in einem Albtraum Sätze von früher wiederholen hörte.
    In unregelmäßigen Kreisen bewegte er sich durch Deutschland. Gegen Ende des Jahres, an einem trüben Wintermorgen, verschlug es ihn in ein Dorf im Saarland. Als er sich der Dorfkirche näherte, riefen ihm ein paar junge Mädchen zu: »Verschwinde, du schurkischer Teufel, wir haben hier schon genug Maulhelden aus der Stadt gehört. Unsere Männer an der Front würden dir eine Kugel verpassen.«
    Bestürzt stellte er fest, dass er tatsächlich schon einmal hier gewesen war. Rote Schindeldächer, zweigeschossige Häuser, winzige Lampenschirme aus Batist, gepflegte Gärten, riesige Ulmen, eine Eiche, die sich über einen schlammigen Pfad neigte, ein oder zwei Gasthäuser, kurz aufflackerndes Wohlwollen, schwarze Nächte – alles sah gleich aus. Gut möglich, dass er eines Tages, unbeabsichtigt, wieder an die Tür von Frau Gruber klopfen würde.
    Bei der Mehrzahl der Menschen war der Siegesstolz längst vergangen, und es herrschte die Angst vor der Niederlage und ihrem Preis. Zumindest in dieser Hinsicht war er niemals Illusionen aufgesessen – ein Jahrhundert oder ein Jahrzehnt, der Lauf der Zeit vertilgt die Sieger, auch in den berauschendsten Stunden des Triumphes, wenn es scheint, dass dieses Leben ewig währt, gilt es, die Tod bringende Vernichtung im Auge zu behalten. Das war ihm eingebrannt, man hatte ihn nicht gefragt. Zu leben bedeutete, seine Seele an den nächsten Morgen zu verkaufen, an den Tag, der einen erwartete. Seine Definition des Lebens hieß, Träume zu schmieden, die groß genug waren, dass man beim Aufstieg zu den Gipfeln für eine Weile der Angst vor der Vernichtung entrann.
    Wohin des Weges? Zuweilen betrachtet er sich selbst von der Seite: Was sieht man da? Eine gräuliche Dunstwolke, in ihrem Zentrum die Umrisse eines Körpers, und unten, am Rand, ein schwarzer Koffer. Vor einem Moment ist er noch hier gewesen, hat alle mit einer Kostprobe vollendeter Redekunst in Erstaunen versetzt, und schon ist er fort, umgeht die Bahngleise und wird von einem Feld verschluckt, entschwindet zwischen Birken und Tannen. Vielleicht wird er sich gen Norden wenden,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher