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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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sie warteten, seine Dienste als Übersetzer aus dem Polnischen an. Die Frauen wurden auf die Gehöfte verteilt. Thomas vermittelte zwischen einigen der Frauen und einem Bauern, der sie schließlich auf seinem Zuckerrübenfeld einstellte: Es galt eine kleine Mulde um die kräftigsten Pflanzen zu graben und alle übrigen mit den Händen auszurupfen. Dazu rutschten die Frauen in einer breiten Reihe vorwärts, auf den Knien, die bald schwarz waren, und wenn eine der Arbeiterinnen zu schnell war, gab es für alle die Pfeife zu hören. Die Frau des Bauern wies Thomas zurecht: »Verehrter Herr, es gehört sich nicht, derart nachlässig mit so schönen und teuren Kleidungsstücken umzugehen.« Sie bestand darauf, sein Hemd und seine Krawatte zu waschen und sogar den Saum an seiner Hose zu reparieren.
    Sein kräftiger Körper weckte Erstaunen und manch böswillige Bemerkung. Der bejahrte Besitzer eines Steinbruchs fragte ihn geradeheraus, warum er nicht im Felde sei. Das Vaterland rufe seine Söhne! Thomas erwiderte freundlich (obgleich ihm eine giftige Antwort auf der Zunge lag), er sei in Berlin beim Stab von Generaloberst Fromm vorstellig geworden und habe sich freiwillig zum Dienst für das Vaterland gemeldet, und zum Beweis zeigte er ihm die Papiere, die er erhalten hatte.
    Je mehr sich das Jahr seinem Ende zuneigte, desto düsterer wurde die Stimmung, und vielerorts sprach man nur noch von Tragödien: Eltern, die ihre Söhne verloren hatten, unglückliche Witwen, Kinder, die ihre Väter vermissten oder den großen Bruder. Das Siegesgeschrei der Herrenmenschen, das man im letzten Sommer auch in Deutschland vernommen hatte, war vorüber, und man vernahm höchstens noch schwache Glaubensbekenntnisse auf Reich und Führer.
    Manchmal, wenn er an eine Gruppe von Menschen geriet, die im Wirtshaus um einen Tisch gedrängt hockte, gellend auf das Recht Deutschlands pochte und sich über die Barbarei seiner Feinde empörte, verspürte er den Drang, von dem entstellten Gesicht der jungen Jüdin zu erzählen, das in Lublin zwischen Asphalt und Polizistenstiefel wie in einem Schraubstock gefangen war, oder über die Klasse der verwaisten Archäologiestudenten, die noch immer durch seine Träume spukte.
    An einem Abend kam er mit einem Arzt ins Gespräch, der für einen kurzen Heimaturlaub aus der Ukraine zurückgekehrt war und von toten Männern und Frauen erzählte, die auf Pferdefuhrwerke verladen wurden, von riesigen Gruben, auf deren Grund Schicht um Schicht Leichen lagen. Erst da kam ihm in den Sinn, dass es kein allzu großes Geheimnis war, das er mit sich herumtrug. Fast alle Menschen, mit denen er zusammentraf, hatten Bekannte und Freunde, Söhne und Verwandte an der Ostfront oder in Polen, und es war sehr wohl möglich, dass sie weit mehr wussten als er. Es war nicht das Wissen an sich, sondern wie man es einordnete.
    In seiner Wahrnehmung zum Beispiel hatte er gegen das Auswärtige Amt rebelliert, als er sich weigerte, ihnen das Modell des weißrussischen Menschen auszuhändigen. Gleichzeitig aber behauptete eine beharrliche innere Stimme, der wahre Grund, warum er sich verweigert hatte, sei doch die Reue gewesen, nachdem sein polnisches Modell so vielen Menschen den Tod gebracht hatte. Noch immer kämpfte diese Stimme mit anderen Stimmen, mit Erinnerungen, die noch nicht verblasst waren, aber wenn der Aufruhr sich gelegt hätte, würde er auf dem Dachboden seines Gedächtnisses das Wissen einmotten, dass er ihnen das Modell nicht überstellt hatte, weil er an dessen Niederschrift gescheitert war; auch würde er sich nicht mehr erinnern, dass es ihm vielleicht vor allem um seine Ehre gegangen war – er wollte nicht noch einmal einem Amt Gelegenheit geben, seine Kräfte auszuschöpfen und ihn dann fallenzulassen; vor allem würde er sich nicht mehr erinnern, dass er sich ihnen verweigert hatte, weil er genau wusste, dass der Preis für sein Verhalten nicht allzu hoch war: Hätte man ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten, hätte er sich auch dann geweigert, das Modell zu vollenden?
    Im ganzen Land waren Schreckensgeschichten über Soldaten zu hören, die in ihren dünnen Armeemänteln jämmerlich erfroren.
    »Wie die Geschichten von Napoleon«, klagte ein Pelzhändler.
    »Wir haben im Großen Krieg neunundzwanzig von einhundertsiebenundzwanzig Männern verloren, diesmal wird uns ein noch schrecklicheres Unglück ereilen«, flüsterte die Frau des Dorfvorstehers. Das Gerede im Zug, in Restaurants und Gasthöfen, auf der
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