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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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zu sehen. Ihre Eltern waren in die Sommerferien gefahren, und der Pförtner sagte, er wisse nicht, wohin. Er habe aber von Klarissa gehört, dass Thomas inzwischen eine hohe Stellung im Auswärtigen Amt bekleide, wozu er ihn beglückwünsche. Es sei sehr schade, dass Herr Heiselberg das Haus verlasse. Aber ohnehin sei, seit dem Tod der Frau Heiselberg, hier nichts mehr wie zuvor.
    »Sie hat sich verlobt, unsere kleine Klarissa«, fügte der Pförtner noch hinzu, »vielleicht hat sie inzwischen sogar geheiratet. Ihre Mutter hat alle Welt wissen lassen, sie sei mit einem jungen Mann verlobt, den eine glänzende Zukunft erwarte.«
    »Und auf welchem Gebiet ist ihm diese glänzende Zukunft bestimmt?«, fragte Thomas.
    Das wusste der Pförtner nicht zu sagen, der Vater des Verlobten jedenfalls sei im Filmgeschäft. An eines aber erinnerte er sich mit Bestimmtheit: Die gnädige Frau habe gesagt, er sei dabei, seine Doktorarbeit abzuschließen.
    Thomas empfahl sich und hinterließ keine Adresse. Sollten sie beim Auswärtigen Amt wirklich beschließen, ihn wegen seiner Faulheit und Schlamperei zu verklagen, würden sie sich anstrengen müssen, ihn zu finden.
    Der Sommer verging. Er fuhr nach Heidelberg (und saß tatsächlich für einige Stunden in der Universitätsbibliothek), besuchte auch Aachen, die Schweizer Alpen – um München machte er einen großen Bogen – und stieg in unzähligen Dörfern und Städtchen ab. Ob er seine Tage im Ruhrgebiet oder in Bayern, in Schleswig-Holstein oder in Hessen verbrachte, immer gefiel es ihm, Felder und Obsthaine zu sehen, hohe Hecken, einen Schmied, der vor einem qualmenden Schornstein und einer glühenden Esse ein Pferd beschlug, auch einen Kirchturm mitsamt Glocke, eine Scheune, in der sich Strohballen türmten, gelb verputzte Bauernkaten, Fachwerkhäuser, und in nicht zu großer Entfernung einen Wald, in dem die Bauern an schönen Tagen Steinhühner zu jagen pflegten. Doch jetzt jagten die meisten Männer an der russischen Front und wurden gejagt.
    Doch oft erwacht er auch zerschlagen, an Tagen, an denen ihm alles unwirklich scheint und seine Flucht aus dem Leben wie eine unverständliche Strafe. Zuweilen, wenn er sein Gesicht in einem Spiegel sieht, glaubt er, es hätte gar keinen Ausdruck, es läge etwas Starres darauf. Wenn er dagegen ankämpft, sich entscheidet, eine bestimmte Miene aufzusetzen, spürt er, dass keine Miene sich passgenau auf sein Gesicht legt, dass immer ein Zwischenraum bleibt. Als Antwort hat er sich einen kleinen Bart wachsen lassen, doch das hat es nicht besser gemacht. Wie ein kleiner Kobold hüpft das Bärtchen auf seinem Gesicht herum und krakeelt: Seht her, hier fehlt etwas, nicht wahr? Manchmal geht er auf die Straße, nachdem er sich einen bestimmten Gesichtsausdruck abgerungen hat, fest entschlossen, Menschen dazu zu bringen, ihn zu fragen: Mein Herr, warum sind Sie so traurig, so glücklich, so erregt?
    Einsamkeit empfand er nicht. In Gesellschaft fremder Menschen überkam ihn Gelassenheit, konnte er über profane Dinge oder über die Kriegsaussichten plaudern und begnügte sich zumeist mit kurzen Sätzen. Die Forderung, mit der er stets konfrontiert gewesen war – nach menschlichem Kontakt, nach Loyalität, nach der Hingabe an Beziehungen –, war endlich verschwunden.
    Er verbrachte den Tag nach Belieben und machte sich nicht die Mühe, den Anschein zu erwecken, er habe eine Stelle oder sei von privilegierter Herkunft. Wenn man ihn nach seiner Tätigkeit oder nach seinen Plänen für die Zukunft fragte, antwortete er mit größter Aufrichtigkeit, er habe keine Ahnung. Man trug ihm kuriose Posten in winzigen Unternehmen an, die Aufsicht über eine Schnapsbrennerei, die Geschäftsführung einer Uhrenfabrik, die er allesamt mit gebotenem Anstand ablehnte. Er hatte nicht vor, sich irgendwo niederzulassen, sein Dasein als flüchtiger Gast war ihm ein Seelenbedürfnis.
    In den Dörfern, durch die er kam, gab es keine Männer. Felder, Gemüsegärten und Gewächshäuser lagen verwaist. An einigen Orten besorgten Kriegsgefangene und junge Frauen die dort anfallende Arbeit. Auf den Bahnhöfen begegnete er zuweilen einer solchen Gruppe von Frauen, die aus einem Dorf in Polen, in Weißrussland oder der Ukraine kamen und zögernd aus den Eisenbahnwaggons stiegen, in schweren Jacken, auf dem Kopf Kartonkisten. Vertreter von Fabriken und Werkstätten oder Bauern warteten bereits auf sie.
    Eines Tages folgte er einer dieser Gruppen und bot denen, die auf
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