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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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vor ihr auf.
    Sie lag unter schwerem Beschuss, eine Detonation folgte der nächsten, und in ihrer Vorstellung wurde von einer jeden Koljas Körper zerfetzt. Zu ihrer Rechten, vom Rande eines Feldes, tauchten staubbedeckte Uniformierte auf, unter die mischte sie sich. Diese Menschen machten ihr Mut, mit einem Mal war ihr Körper von wilder Leichtigkeit erfüllt, von Leben, seinem Leben.
    Die Soldaten hämmerten unablässig an das Tor der Festung, doch es kam keine Antwort. Sie heulte und schlug mit den Fäusten dagegen. Die Minuten verrannen.
    Ein bärtiger Offizier, von barfüßigen Soldaten eskortiert, näherte sich, hob sein Gewehr und hielt ihr die Mündung ins Gesicht. Für einen Moment schien ihr, als wäre alles vorüber, und ein glücklicher Laut brach aus ihrer Kehle – niemals hatte sie Menschen verstanden, die sich verzweifelt ans Leben klammerten. Er fluchte auf Ukrainisch, schlug ihr den von Lumpen umhüllten Kolben ins Gesicht und warf sie zu Boden.
    »Ich werde dafür sorgen, dass man Sie zusammen mit Ihrer Frau und Ihren Kindern verbrennt«, provozierte sie, ebenfalls auf Ukrainisch, den bärtigen Offizier und starrte auf das Gewehr.
    Er schwang es herum und zielte auf sie. Einer aus der Eskorte kam auf sie zu und setzte ihr seinen nackten Fuß auf die Lippen.
    »Sie ist verrückt …«, schrie er dem Bärtigen zu, »nicht schießen, nicht schießen.«
    Die piepsige Stimme eines jungen Mädchens kreischte auf Russisch: »Töte die Hure! Sie ist eine vom NKWD.«
    Der Soldat drückte seinen Fuß fester auf ihre Lippen, an seiner Ferse klebten Staub und kleine Steinchen. Der Boden dröhnte vom dumpfen Aufprall der Erdschollen, die nach einer Explosion herunterfielen. Der Tod und das Leben waren jetzt ihrer Kontrolle entzogen, sie glaubte, ohnmächtig zu werden.
    Doch jetzt bewegte sich das Tor. Mit einem Schlag war sie wieder bei sich. Hinein, sofort. Der Bärtige flüsterte mit jemandem. Soldaten drängten in Gruppen heraus. »Die Telefone sind tot, das ist eine Rattenfalle hier«, schrien die Flüchtenden. »Besser, wir ziehen uns nach Kobrin zurück!«
    Der bärtige Offizier brüllte zurück: »Nach Kobrin? Hier können wir uns verschanzen, draußen lauft ihr direkt in den Tod.«
    Die Soldaten richteten ihre Blicke auf die feuerspeiende Mauer der deutschen Artillerie, und einige wandten sich um und versuchten, indem sie ihre Kameraden niedertrampelten, zurück in die Festung zu gelangen. Granaten explodierten, und plötzlich breitete sich vor ihnen ein rasender Feuervorhang aus. Sie tastete nach dem Messer in ihrem Strumpf, klappte es auf und zog es in einer Bewegung über den Fußrücken des Soldaten. Er schlenkerte den Fuß, als wollte er eine Mücke verscheuchen. Sie rollte sich unter ihm weg und spuckte Dreck und Blut.
    Der Soldat beugte sich über sie. Sein Gesicht ähnelte dem des Offiziers, mit dem sie gestern Abend im Park getanzt hatte, ein Mann in prachtvoller Uniform, der nur wenig und mit fremdem Akzent sprach. Anfangs dachte sie, dass er aus einem der baltischen Staaten stammte, bis ihr klar wurde, dass er Deutscher war. »Also, wann werdet ihr angreifen?« Sie klammerte sich fester an seine Schulter. »Ich werde dich nicht verraten, du kannst mir das Geheimnis anvertrauen.« Der Offizier murmelte aufgebracht, sie sei ja verrückt, und stieß sie weg.
    Zwei Stunden zuvor war Nikita Michailowitsch an ihrer Wohnungstür aufgetaucht und hatte ihr angeboten, sich ihm anzuschließen. Er habe sich dem Genossen Podolski gegenüber verpflichtet, sie im Falle eines Angriffs aus der Oblast zu schaffen, und er sei ein Mensch, der seine Versprechen halte.
    Sie hatte nur Spott für ihn übrig: »Habt Ihr noch immer nicht verstanden? Eure kleinen Ränkespiele können nicht das Geringste ändern. Ich werde genau eine Sekunde länger am Leben bleiben als Kolja, alle Ausreden, nicht sterben zu wollen, sind aufgebraucht. Überhaupt, wie kommt es, dass Sie sich davonmachen, Nikita Michailowitsch? Haben Sie es etwa plötzlich mit der Angst zu tun bekommen? Monatelang schwören Sie alle Eide, die Deutschen würden nicht wagen, einen Zweifrontenkrieg zu führen, monatelang erzählen Sie, beim militärischen Nachrichtendienst glaube man, es sei kein Angriff zu erwarten, dabei leiten Sie von dort die Informationen weiter, um am Entscheidungstag mit den Beweisen wedeln zu können, dass Sie exakt diese Entwicklung vorhergesehen haben. Wo ist denn die Meldung der TASS, verantwortliche Kreise in Moskau
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