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Gudrun Pausewang

Gudrun Pausewang

Titel: Gudrun Pausewang
Autoren: Hermann Vinke
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geworden war. Von den damaligen tschechischen Besitzern, einem alten Ehepaar, wurde ich sehr herzlich aufgenommen. Nach meiner endgültigen Rückkehr aus Südamerika, ab 1978, fuhr ich fast jedes Jahr hinüber, meistens mit meinem heranwachsenden Sohn, und bemühte mich, mit den jetzigen tschechischen Besitzern, der Enkelin des alten Ehepaars und ihrem Ehemann, eine solide Freundschaft aufzubauen. Die hat sich im Lauf der Jahre so stabilisiert, dass die Frage, welcher Nationalität wir angehören, gar keine Rolle mehr spielt. 2009 war ich auf Einladung des jetzigen tschechischen Bürgermeisters zu einer Lesung in meinem Heimatdorf. Der Saal war gerammelt voll, die tschechischen Zuhörer konnten mit den Übersetzungen meiner Texte etwas anfangen. Sie begegneten mir sehr herzlich. Meine Meinung zum Thema Vertreibung: Nicht nur die Tschechen haben Unrecht getan. Unsere Nation hat ja vorher, während der Hitlerzeit, den Tschechen auch Unrecht getan. Wir haben den freiheitsliebenden Tschechen die Freiheit genommen! Wir haben als o – nach meiner Meinung ! – keinen Grund, immer nur die Tschechen als Täter und uns Sudetendeutsche als Opfer zu sehen. Unrecht geschah auf beiden Seiten!
    Sie gehörten bis zur Vertreibung dem Bund Deutscher Mädel (BDM) an. Was hat Sie damals am Nationalsozialismus fasziniert?
    G P – Bis zur Flucht war ich Mitglied des BDM. Die deutschen Mädchen und Jungen wurden ja ab dem 10 . Lebensjahr über die Schulen, die Medien, die Jugendorganisationen und oft auch über die Eltern zu Nazis erzogen. Der Staat beschäftigte uns mindestens zweimal pro Woche im sogenannten »Dienst« mit Singen, Sport, Gesellschafts- und Geländespielen. Die Nazis wussten sehr genau, was jungen Menschen Spaß macht und wie man sie begeistern kann! Uns gefiel auch sehr, dass wir nicht von Erwachsenen, sondern von jungen Leuten geführt wurden, die nur zwei oder drei Jahre älter waren als wir. Ein NS-Slogan lautete: »Jugend führt Jugend«.
    Sollte damit vor allem das Selbstwertgefühl angesprochen werden?
    G P – Ja, unser bis zum Beginn der NS-Zeit oft von der Gesellschaft gedämpftes Selbstwertgefühl wurde in Liedern und Gedichten enorm gestärkt. Wir waren Deutschlands Zukunft! Der NS-Staat lieferte uns Vorbilder, so zum Beispiel Albert Leo Schlageter, Hitlerjunge Quex, Horst Wessel, vor allem aber das übergroße Vorbild Adolf Hitler. Der NS-Staat vermittelte uns darüber hinaus das, wonach ein junger Mensch besonders strebt: eine große Aufgabe, der er sich ganz hingeben kann, für die er sogar zu sterben bereit ist. Er gab uns die Slogans: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!«, »Wer auf die deutsche Fahne schwört, hat nichts mehr, was ihm selbst gehört« und »Führer, befiehl, wir folgen dir!« Deutschland zu dienen, war für uns damals der Sinn des Lebens. Ich bedauerte, kein Junge zu sein, denn als Mädchen konnte ich ja mein Leben für Führer, Volk und Vaterland nicht hingeben!
    Welche Zukunft haben Sie sich als junges Mädchen damals ausgemalt? Was waren Ihre Träume?
    G P – Bis zu meinem 14 . Lebensjahr wollte ich meinen Eltern nacheifern und kinderreiche Mutter werden. Sieben Kinder wollte ich haben! Und natürlich stellte ich mir vor, mit meiner Familie auf dem Land zu leben. Mit Dutt, der damaligen Nazi-Frauenfrisur. Etwa ab meinem 14 . Lebensjahr wurden meine Zukunftsträume individueller. Nachdem ich im Fach Geschichte von der Eroberung Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen gehört hatte, begann ich mich für Südamerika zu interessieren. Ich wurde ein richtiger Südamerika-Fan. Nach Kriegsende wollte ich unbedingt dorthin!
    Wann stellte sich die Ernüchterung ein? Auf der Flucht oder erst später?
    G P – Die Ernüchterung begann erst während der Flucht. Da hatte ich genügend Zeit, um über die ganze vergangene Zeit und das NS-Programm nachzudenken. Nach und nach erkannte ich, wie skrupellos die Nazis unseren jugendlichen Idealismus benutzt und missbraucht hatten. Und dass sie uns angeleitet hatten, uns als Herrenmenschen zu sehen, die sich erlauben konnten, die Menschenrechte zu missachten. Leider zog ich aus dieser bitteren Erkenntnis, die so wehtat wie eine zerbrochene Liebe, eine völlig falsche Konsequenz: Nie mehr wollte ich etwas mit Politik zu tun haben!
    Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Behauptung vieler Zeugen aus der Hitlerzeit, man habe damals von all dem Bösen nichts gewusst. Das stimmt nicht. Das ist eine Schutzbehauptung. Damit soll signalisiert werden:
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