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Grrrimm (German Edition)

Grrrimm (German Edition)

Titel: Grrrimm (German Edition)
Autoren: Karen Duve
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würde. Und dann tauchte wenige Meter vor mir plötzlich der Wolf auf. Er war groß, einfach riesig, und hässlich, mit rötlichem Fell und glimmenden Augen. Erst stand er einfach nur da und knurrte mich an, dann schien er plötzlich fliehen zu wollen und lief ein paar Sprünge, nur um gleich darauf umzukehren und knurrend und geifernd wieder auf mich zuzukommen. Rocky riss sich los und lief jaulend auf das grässliche Vieh zu.
    »Nein«, rief ich, zog mein Beil aus dem Gürtel und rannte ihm hinterher. »Komm zurück! Bitte!«
    Aber Rocky wurde von dem großen Wolf unwiderstehlich angezogen. Die letzten Meter kroch er winselnd auf dem Bauch, und als er ihn erreicht hatte, leckte er ihm unterwürfig das Kinn. Die Bestie schnappte zu. Krachend schlossen sich ihre Kiefer um Rockys Kopf. Ich sprang vor und hieb mit dem Beil auf den Wolf ein, traf seine Schulter und hieb ihm mit einem Schlag die Vorderpfote ab. Die Bestie ließ Rocky fallen und heulte auf. Einige endlose Sekunden starrte sie mich aus blutunterlaufenen Augen an, dann wandte sie sich ab und sprang auf drei Pfoten davon. Ich schaute mir an, was von Rocky übrig geblieben war – Fell, Fleisch und Knochen. Ich zog seinen Kadaver ins Gebüsch und deckte ihn mit Tannenzweigen zu. Ich weinte ein bisschen. Dann nahm ich das Beil fest in die Hand und machte mich wieder auf den Weg. Es waren höchstens noch zwei Kilometer bis zu Großmutters Haus, aber der Wald schien mir auf einmal unermesslich groß, dunkel und gefährlich, und ohne meinen Hund an meiner Seite kam ich mir schrecklich verwundbar vor.
    Als ich Großmutters Haus erreichte, brannte kein Licht. Ich klopfte an.
    »Komm herein, die Tür steht offen«, rief Großmutter.
    Im ganzen Haus war es dunkel, bis auf ein kleines Feuer unter dem Kessel. Es roch nach verbranntem Fleisch.
    »Ich bin dem roten Wolf begegnet«, sagte ich. »Er hat Rocky getötet.«
    Großmutter antwortete nicht. Sie lag im Bett, die Nachthaube schief auf dem Kopf und die gehäkelte Patchworkdecke bis unter die Nasenspitze hochgezogen. Der Schweiß lief ihr nur so über das Gesicht, obwohl es im Haus eigentlich eher kalt war. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante, legte das Beil aufs Nachttischchen und knipste die plüschige kleine Lampe darauf an.
    »Großmutter, was schwitzt du denn so?«
    »Das ist das Alter«, sagte Großmutter. »Warte nur, bis du auch so alt bist, dann wirst du das Schwitzen schon noch lernen.«
    Ich wischte ihr die nassen Haare aus der Stirn.
    »Großmutter, was ist denn mit deinen Augen. Du hast ja riesengroße Pupillen.«
    »Damit ich dich besser sehen kann. In der Dunkelheit hat man eben große Pupillen. Was denkst du denn, wie groß deine jetzt sind?«
    Dann sah ich den frischen Blutfleck, der sich auf der Häkeldecke ausbreitete. Ich griff so ruhig wie möglich nach meinem Beil, stand auf und trat einen Schritt vom Bett zurück.
    »Zeig mir mal deine Hände! Alle beide!«
    Großmutter krempelte ein Stück Oberlippe hoch und knurrte wie ein Hund. Ich zog ihr die Decke weg. Sie lag im Nachthemd da. Ihre linke Hand fehlte und der Stumpf war in aller Hast notdürftig mit einem Lappen umwickelt, aus dem das Blut sickerte.
    »Verrat mich nicht, ach Elsie, verrat mich nicht! Denk daran, dass ich dich mit Leichtigkeit hätte fressen können. Ich könnte dich jetzt noch fressen, wenn ich wollte, aber ich tue es nicht.«
    Sie war viel zu schwach und elend, um mich zu fressen. Ich tat mein Beil zurück auf den Nachttisch, deckte Großmutter wieder zu, holte frisches Verbandszeug, legte Schere und Pflaster bereit und wickelte den blutgetränkten Lappen vom Armstumpf. Großmutter hatte die Wunde schon selber in die Glut gehalten, aber nicht lange genug, dass sie sich vollständig geschlossen hätte. Ich machte ihr einen frischen Verband darum und deckte auch die Wunde auf der Schulter ab.
    »Danke«, sagte Großmutter und winselte ein bisschen. Wahrscheinlich dachte sie, dass es sich jetzt sowieso nicht mehr lohnte, die Fassade aufrechtzuerhalten.
    »Seit wann bist du … in diesem Zustand«, fragte ich. »Ist es passiert, als du dich um Vater gekümmert hast? Ich habe gar nicht gemerkt, dass er dich gebissen hat.«
    »Kimi? Ich bitte dich … Ich bin schon seit dreißig Jahren Werwolf. Ein italienischer Hausierer hat mich mal gebissen. Seitdem gehe ich um. Aber ich habe das unter Kontrolle.«
    Das behaupten immer alle Werwölfe, wenn sie erwischt werden.
    »Weißt du was«, sagte Großmutter, »wir behalten das
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