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Grrrimm (German Edition)

Grrrimm (German Edition)

Titel: Grrrimm (German Edition)
Autoren: Karen Duve
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noch nie gesagt, und schon gar nicht zu Jaromir. Ich hoffte stark, dass Rocky ihn nicht plötzlich doch noch zu mir durchlassen würde.
    »Die Kleinste schlagen, ausgerechnet Petronella, die sich überhaupt nicht wehren kann«, rief meine Schwester Luzie, »also das ist doch wirklich das Letzte.«
    Sie lief aus dem Haus, um unsere Mutter aus der Kneipe zu holen.
    »Als wenn ich nicht schon Kummer genug hätte«, sagte Mutter, als sie hereinkam. Sie war bereits betrunken. Ihre Handtasche hing bloß an einem Henkel über ihrem Unterarm und klaffte weit auf. »Reicht es nicht, dass mein Kimi tot ist? Müsst ihr mich noch zusätzlich quälen?«
    »Elsies Wolf hat mich gebissen«, schrie Petronella und hielt ihr die nackten Füße hin.
    »Stimmt das?« Mutter begutachtete schwankend die winzigen Schrunden. »Das Vieh kommt weg! Du bringst es heute noch zurück!«
    »Rocky hat sie gar nicht gebissen«, sagte ich, »nur so geschnappt, wie er das auch bei mir immer macht.«
    »Und Elsie hat mich geschlagen«, schrie Petronella.
    »Was ist bloß los mit dir«, sagte Mutter und versuchte vergeblich, sich mit einem leeren Gasfeuerzeug eine Zigarette anzuzünden, »du warst doch früher so ein nettes Mädchen. Der Umgang mit Stepan bekommt dir nicht. Das hört auf! Ich will mein liebes Rotkäppchen wiederhaben. Und der Hund kommt ins Tierheim.«
    »Nein, der bleibt hier. Ich behalte ihn«, schrie ich.
    »Wie redest du eigentlich mit mir?«, sagte meine Mutter schlagartig ernüchtert, wobei ihr die Zigarette aus dem Mund fiel. Sie nahm einen zusammengerollten Ledergürtel aus ihrer Handtasche. Aber als sie auf mich zukam, stürzte Rocky sich mit lautem Knurren auf ihre Füße: »Grrrimm.«
    Mutter wich totenblass zurück bis an die Wand.
    »Hinaus«, sagte sie tonlos und ohne Rocky aus den Augen zu lassen, »lass dich hier ja nicht wieder blicken. Du gehörst ins Erziehungsheim. Den Hund auf die eigene Mutter zu hetzen … Aber du hattest schon immer etwas Falsches und Verschlagenes an dir.«
    Ich nahm Rocky an die Schleppleine und ging zur Tür.
    »Meine Stiefel bleiben hier, du diebisches Rabenaas!«, schrie Mutter. Ich zog die Moonboots aus.
    »Die sind völlig kaputt, die wirst du mir ersetzen«, keifte meine Mutter.
    Ich nahm meine alten Turnschuhe aus dem Schrank, setzte meine rote Kappe auf, und für alle Fälle nahm ich noch das kleine Beil mit, das auf dem Ofenholz lag. Diesmal sagte meine Mutter nichts, und auch meine Geschwister starrten mir bloß mit großen Augen hinterher, wie ich mit dem Beil in der Hand und auf Socken hinausging. Die Turnschuhe zog ich erst draußen an. Ich wollte keine Minute länger als nötig in diesem Haus bleiben.
    Auf der Straße begegnete ich Elena, einem Mädchen aus meiner Schule. Sie lieh mir ihr Handy, und ich rief Stepan an und fragte ihn, ob ich bei ihm wohnen könnte.
    »Klar«, sagte Stepan, »überhaupt kein Problem. Du kannst in unserer Wäschekammer schlafen. Oder wir heiraten schnell, und du schläfst bei mir. War nur ’n Witz. Ich sage meinen Eltern Bescheid. Allerdings komme ich erst spät nach Hause. Ich bin heute Nacht bei euch in Vifor auf dem Friedhof, um Istvan Brani auszubuddeln und zu pfählen. Deine Großmutter meint, dass er wahrscheinlich ein Wiedergänger geworden ist. Die Erde auf seinem Grab ist locker, und irgendjemand hat den halben Friedhof zerwühlt und überall Knochen verstreut. Und der Pfarrer sagt, er hätte schon vor Wochen gehört, wie Brani an seinem Leichentuch schmatzt.«
    Ich mochte nicht allein bei Stepans Eltern aufkreuzen, deswegen verabredeten wir, dass ich bei meiner Großmutter warten würde, bis er mich abholen kam.
    Im Wald war es so kalt, dass der Schnee knisterte. Es dämmerte schon, und ich fror, denn ich hatte vergessen, eine Jacke mitzunehmen. Als in der Ferne ein Wolf heulte, setzte Rocky sich auf die Hinterkeulen und heulte ebenfalls. Kurz darauf antwortete wieder der Wolf, aber diesmal hörte er sich schon etwas näher an. Ich schleifte Rocky an der Schleppleine neben mir her, damit er nicht noch einmal heulte und den Wolf anlockte. Mir war ganz schön unheimlich. Um mich abzulenken, stellte ich mir vor, wie es wohl sein würde, bei Stepan zu wohnen. Ich kannte seine Eltern nur flüchtig, aber sie sahen nett aus, und wenn ich Stepan früher zur Schule abgeholt hatte, hatte seine Mutter ihm immer ein belegtes Brot in die Tasche gesteckt und ihn auf die Stirn geküsst. Ich malte mir aus, dass sie vielleicht auch zu mir freundlich sein
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