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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien
Autoren: Nina Bußmann
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und an keine binden könne oder wolle. Und wieder hob er vom Hund an und wie der Vater diesen, anstatt ein Medikament zu besorgen, erschossen hatte. Mich hätte er auch gern umgebracht, sagte Viktor, und erzählte: Wer ins Wasser geworfen wird, lernt schwimmen, hat er gesagt, und hat mich zappeln und kreischen lassen, eine gute Weile, fast eine Erleichterung, als er mich endlich wirklich geworfen hat, in hohem Bogen. Lachend, erzählte Viktor, lachend schaute er zu, wie ich fast ersoffen bin, bis er mich herausgeholt hat, als es beinahe zu spät war.
    Wie er sich überhaupt daran erinnern könne, müsste man ihn einmal fragen, wie er, mit dem Ertrinken ringend, das Lachen des Vaters gesehen oder gehört haben wollte. Aber darauf würde der Bruder gar nicht eingehen, nur wieder betonen, nie schwimmen gelernt zu haben seither, überhaupt niemals etwas gelernt, eingeübt und schließlich gekonnt zu haben, nichts, was ein langsames Heranführen forderte, Ausdauer und Geduld.
    Wie oft Viktor diese Geschichte auch erzählte, Schramm konnte sich, beim besten Willen, nicht daran erinnern, nicht an diese eine Begebenheit, nur an eine ineinander gegleißte Ganzheit dieser Ferientage am Meer. Irgendein Meer, dachte er, jedes Jahr der gleiche Ort, dessen Namen er nicht mehr wusste. Benzingeruch an der Uferpromenade, Bauchladenverkäufer auf schmelzendem Teer. Den Vater sah er, wie er unter- und wieder auftauchte, das Glitzern an seinen behaarten Armen, sein Lachen und Viktors Kreischen, wenn der Vater das Kind, und das war mehr als ein Mal geschehen, bei den Hüften nahm und in die Höhe hielt. So leicht war der Bruder, und strampelte und jauchzte, dass schon das Hinsehen eine Lust war, eine Freude, zu sehen, wie der Vater ihn in die Höhe, in einen ansteigenden Bogen hineinwarf, zur Sonne hin; ein nicht enden wollender Moment von Furcht und Neid und Begeisterung, angehaltenem Atem, indem das Kind flog, aufs Wasser platschte. Den Atem angehalten, als er flog, dachte Schramm, und gelacht, als er fiel, laut und hässlich aufs Wasser klatschte, mit angeklebtem Haar, zusammengekniffenen Augen auftauchte, um sich schlug und spuckte, Grimassen schnitt, nach einem unsichtbaren Gegner schlug, nicht anders als ein Welpe, der nach den Wellen beißt, als ob sie lebten. Deutlich sah er und hörte er es, das eben noch glucksende, gurgelnde Kind, den Lärm, den es veranstaltete, dass man nicht anders konnte, als sein Rufen für einen Scherz zu nehmen, für eine seiner Arten, ein Geschrei und Getobe zu machen, damit alles hinsah.
    Der Hund sah ihn an. Ich habe es ja nicht begriffen, wie soll ein Kind so etwas begreifen, dachte Schramm. Und machte eine kühlende, wedelnde Handbewegung, wie sie passt zu einer einst schlimmen Geschichte, die mit der Zeit, mit jedem Erzähltwerden etwas von ihrem Schrecken einbüßt. Der Hund hatte sich gesetzt, nah beim Zaun, kratzte seinen Nacken und saß wieder still. Was hörte er, dachte Schramm, wohin horchte er, mit diesen feinen Hundeohren, ihrer dauernden Empfänglichkeit. Wie lernte so ein Tier, herauszusondern, was für sein Leben von Belang war. Was hörte und witterte er aus den gekippten Hausfenstern, und was aus dem Wald. Und obwohl er nicht wollte, musste Schramm an die Geschichte denken, die der Bruder, als könnte er in ihn hineinsehen, so gern erzählte von Schramms Verlorengehen: dass ihm, nur weil er keine Tränen vergossen hatte, nicht angst und bange gewesen wäre, weil sie ihn da draußen vergessen hatten und um ihn nur schwarzer Wald stand und schwieg.
    Aber es half nicht, darüber zu diskutieren, wie es eigentlich gewesen war, es blieb doch immer nur ein Abschweifen, ein Ablenken von etwas anderem, Fernerem. Es erklärte nichts. Geschichten, sie konnten dienen als Begründungen, warum einer so und nicht anders geraten war, aber hinter diesen Begründungen selbst stand wieder nichts, und was auch, dachte er, wäre gewonnen, wenn man es sich jetzt noch unter die Nase rieb.
    Was hatte es ihnen eingebracht, an dem einen Abend, was war gewonnen, als die Frau sie allein gelassen hatte am Glastisch, damit sie einmal richtig miteinander redeten. Ihr habt doch etwas zu besprechen, hörte Schramm sie noch sagen. Ein schlecht verhüllter Befehl. Wenn sie wenigstens recht gehabt hätte, dachte er, wenn sie sich über nichts weiter zerstritten hätten als über der Vatergeschichte, der Frage, wie dieser Mensch in seine Art zu sein hineingezwungen worden war, warum er an Frau und Kindern Rache nahm. So
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