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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien
Autoren: Nina Bußmann
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einfach war es nicht. Den Vater Vater sein lassen, dachte Schramm. Fraglos, dass sie verloren hatten durch ihn, einiges sogar, was aber war zu gewinnen durch dieses Schmerzbenehmen. Was eigentlich, hätte er noch fragen wollen, war an groben Veränderungen geblieben, wo lag der Verlust. Einmal aufgefordert, genau zu sagen, was er meinte, wäre der Bruder sich seiner Sache schnell nicht mehr so sicher gewesen, dachte Schramm. Einmal muss gut sein, hätte er sagen können, einmal ist es genug, sagte er sich jetzt wieder vor, um überzuleiten zum Schritt nach vorn, dem Blick aufs Jetzt. Es half nicht gegen das Singen im Ohr, das Singen des Vaters von der Schallplatte, die Schramm doch nur ein einziges Mal angehört hatte, doch das reichte aus, die Melodie in den Kopf zu drechseln, einmal nur angehört, und er wurde sie nie mehr los.
    Auf bloß einen kurzen Besuch hatte er kommen wollen, wie er gut erinnerte, am frühen Freitagnachmittag hatte er den Zug genommen, im Frühsommer kurz vor der Zeugnisvergabe, in diesen unentschlossenen Wochen, wenn es um nicht mehr viel geht und doch noch nicht Ferien sind. Zur Hälfte abgeschlossen hatte er das Referendariat, und auch wenn die Mutter ihn natürlich noch lieber in einer anderen Stellung gesehen hätte, war es wenigstens etwas, wovon sich berichten ließ. Von den Fahrten hätte er ihr erzählen können, die das Gymnasium für die Schüler veranstaltete, es ist nicht das Schlechteste, so hätte er es ihr darstellen können: Man kommt in der Welt herum. Als er heimkam, schallte durchs ganze Haus der Gesang. Durch die Räume im Erdgeschoss, im ersten Stock, im Ohr immerzu dieses Singen, dieses atemlos ausgelassene, vom Vater mehr gerufene, als gesungene Lied. Du hast mich wohl niemals noch traurig gesehen, so soll es auch jetzt nicht beim Abschied geschehen.
    Im Mansardenzimmer hatte er sie schließlich gefunden. Wo zuletzt Simon gewohnt hatte, Herr Simon, mit seinen Büchern und seinem Kompass, seinen Geschichten aus Nordafrika. Bis in dieses Zimmer riefen die Lieder des Vaters herauf. Auf der Türschwelle saß die Mutter, mit angewinkelten Knien, die Arme um die Beine geschlungen, in den Händen einen nassen Scheuerlappen. Sehr ruhig und fest sah sie zu ihm auf, wie man es tut, wenn man befürchtet, dass einem der Blick sonst verschwimmt. Weggesackt, sagte sie, beim Wischen weggesackt bin ich. Aus heiterem Himmel schwarz vor Augen. Schramm musste sich konzentrieren. Ob jemand nach ihr sehen, ob sie besser liegen sollte, fragte er sich und schaute an ihr vorbei auf das Zimmer, das weit geöffnete Fenster, den ins Fenster gehängten, ausgeklopften Flickenläufer, das einfallende Licht. Der Stuhl auf dem Tisch zeigte mit den Beinen zur Decke. Herr Simon war der letzte Mieter gewesen, seit seinem Auszug stand die Mansarde unbenutzt, verblieben die Bilder, die Möbel in unveränderter Anordnung. Der Teufel wusste, warum. Doch so sitzen sollte die Mutter nicht, auf der Schwelle, am nackten Boden. Das Putzwasser troff aus dem Lappen, es lief an ihren Unterschenkeln hinab. Hässlich, doch wollte er ihn ihr nicht wegnehmen, was sonst sollte sie mit ihren wringenden Händen. Er konnte sich nicht konzentrieren. Wie denn auch, mit den Vaterliedern im Ohr und im ganzen Haus. Schwankend intoniert, deutlich ausgesprochen, was es nicht besser machte, dieses in seinen schiefen Klängen eingerichtete Klagen, dem es derart ernst war mit seiner Sache, Wort für Wort.
    Aber ein anständiger Mensch, sagte die Mutter, offenbar in ganz andere Gedanken gedrungen, innerlich abgewandt von dieser Musik, die ihr anscheinend nur ferner Lärm war. Eine diskrete Person ist er gewesen, dieser Simon. Das Bett hat er gemacht, Kante auf Kante, man kann nichts sagen über ihn, sagte sie und sah auf zu Schramm. Was sollte er erwidern. Jemand sollte sich kümmern, das war zu sehen, jemand sollte die Musik leise stellen, wenigstens. Stattdessen aber stand er da, hoffend und harrend, es würde vorbeigehen, weiterziehen wie ein beliebiges anderes unliebsames Geräusch.
    Unschön, doch hatte er nie eine Geschichte daraus gemacht, dachte Schramm, nie darauf herumgeritten war er, nicht ihr gegenüber, schon gar nicht dem Bruder. Du kannst jetzt nicht auch noch gehen, dachte Schramm, mehr hatte sie nicht sagen müssen. Stütz mich, befahl sie ihm, und indem sie auf die Art und Weise, zum Vierbeiner ineinander verhakt, den Zwischenboden abgingen, die glattgeschrubbten Holzstufen, sprach sie von ihrer Gesundheit. Der Arzt
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