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Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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Pflaumenmus und süße Brötchen sowie eine Platte mit gekochten Eiern und bitterem Gemüse auf den Tisch. Nadja, die Angst davor hatte, mit dem Essen aufzuhören, futterte wie eine Scheunendrescherin, war aber schließlich so satt, dass sie keinen Bissen mehr hinunterbekam.
    »Was möchtest du?«, fragte Magda.
    Dieses Mal zögerte Nadja. »Wenn ich nach Hause gehe …«, sagte sie voller Furcht.
    »Wenn du gehst, kannst du nie mehr zurückkehren. Ich werde nicht zulassen, dass du ein Ungeheuer zu mir führst.«
    Nadja erschauderte. Ein Ungeheuer . Sie hatte also Recht gehabt, was Karina betraf.
    »Was möchtest du?«, fragte Magda.
    Nadja dachte an die tanzende Genetschka, an die schüchterne Lara, an Betja und Ludmila und all die anderen, die sie nicht gekannt hatte.
    »Ich möchte, dass mein Vater endlich von Karina erlöst wird. Ich möchte, dass Duwa erlöst wird. Ich möchte nach Hause.«
    Magda streckte einen Arm aus und berührte behutsam Nadjas linke Hand – zuerst den Ringfinger, dann den kleinen Finger.
    »Überleg es dir gut«, sagte sie.
    Als Magda am nächsten Morgen den Frühstückstisch decken wollte, sah sie das Hackebeil, das Nadja dort hingelegt hatte.
    Sie bemaßen, siebten und mischten zwei Tage lang, kneteten einen Teigbatzen nach dem anderen. Am zweiten Nachmittag – die schwerste Arbeit war geschafft – wandte sich Magda an Nadja.
    »Du sollst wissen, dass du gern bei mir bleiben kannst«, sagte die Hexe.
    Nadja streckte ihr die Hand hin.
    Magda seufzte. Das Hackebeil mit der mattgrauen Klinge aus Grischa-Stahl blitzte einmal in der Sonne auf, dann sauste es hinab und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in den Tisch.
    Beim Anblick ihrer abgetrennt auf dem Tisch liegenden Finger wurde Nadja ohnmächtig.
    Magda sorgte dafür, dass die Fingerstummel heilten, verband die Hand und gönnte Nadja eine Ruhepause. Während Nadja schlief, zerstieß Magda die zwei Finger zu einem feuchten, roten Mehl, das sie in den Teig mischte.
    Nachdem Nadja sich erholt hatte, arbeiteten sie gemeinsam weiter. Sie formten das Lebkuchenmädchen auf einem Brett, fast so groß wie eine Tür, und schoben es danach in den glühend heißen Ofen.
    Das Lebkuchenmädchen wurde über Nacht durchgebacken und die Hütte füllte sich mit einem herrlichen Duft. Obwohl Nadja wusste, dass sie ihr eigenes Fleisch und Blut roch, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dann schlief sie ein. Kurz vor der Morgendämmerung schwangen die Ofentüren knarrend auf und das Lebkuchenmädchen kroch heraus. Es ging quer durch den Raum, öffnete das Fenster und legte sich zum Abkühlen davor.
    Nachdem es hell geworden war, gaben Nadja und Magda dem Lebkuchenmädchen den letzten Schliff, bestäubten es mit Puderzucker, glasierten die Lippen und formten dicke Haarsträhnen aus Zuckerguss.
    Sie zogen ihm Nadjas Kleider und Stiefel an und schickten es auf den Weg nach Duwa.
    Dann musste Nadja sich an den Tisch setzen. Magda holte ein kleines Einmachglas aus einem der Schränke. Sie öffnete das Fenster, und sofort kam die augenlose Krähe angeflogen und ließ sich auf dem Tisch nieder.
    Magda kippte den Inhalt des Einmachglases in ihre Hand und streckte sie Nadja hin. »Mach den Mund auf«, sagte sie.
    Auf Magdas Handfläche lagen zwei eisblaue Augen in einer schimmernden Pfütze, die Augen eines Vogelkükens.
    »Du darfst weder schlucken noch würgen«, sagte Magda streng.
    Nadja schloss die Augen und zwang sich, den Mund zu öffnen. Sie unterdrückte ein Ekelgefühl, als die Augen der Krähe auf ihre Zunge glitten.
    »Augen wieder auf«, befahl Magda.
    Nadja gehorchte. Sie stellte fest, dass sie die Welt plötzlich auf eine ganz neue Art wahrnahm. Sie sah sich auf dem Stuhl sitzen, die Augen immer noch geschlossen, und sie sah die neben ihr stehende Magda. Als sie ihre Arme heben wollte, hoben sich stattdessen Flügel. Sie tat ein paar Hüpfer auf ihren kleinen Krähenbeinen und stieß ein überraschtes Krächzen aus.
    Magda scheuchte sie zum Fenster hinaus und Nadja, ganz im Bann ihrer Flügel, unter die der Wind fasste, bemerkte nicht, wie traurig die alte Frau dreinschaute.
    Nadja erhob sich in einem weiten Bogen hoch in die Luft, schlug mit den Flügeln und versuchte sich an das neue Körpergefühl zu gewöhnen. Sie sah den Wald, der sich unter ihr ausbreitete, die Lichtung und Magdas Hütte. Sie sah in der Ferne das Petrazoj-Gebirge, und als sie tiefer glitt, sah sie im Wald die Spuren des Lebkuchenmädchens. Sie flog steil nach unten
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