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Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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Ruinen ferner Orte entdeckt und zum Anwesen des Herzogs gebracht hatte, damit sie Lesen, Schreiben und ein Handwerk lernten. Der Junge war klein, stämmig und scheu, hatte aber immer ein Lächeln auf den Lippen. Das Mädchen war anders, und sie war sich dessen bewusst.
    In einem Schrank versteckt, um Klatsch und Tratsch der Erwachsenen zu belauschen, hörte sie, wie Ana Kuja, die Haushälterin des Herzogs, sagte: »Was für ein hässliches Mädchen. Wie kann ein Kind nur so aussehen? Sie erinnert mich an ein Glas saure Milch – bleich und verdrossen.«
    »Und so mager!«, fiel die Köchin ein. »Sie isst nie auf.«
    Der mit im Schrank hockende Junge drehte sich zu dem Mädchen um und flüsterte: »Warum isst du so wenig?«
    »Weil alles wie Schlamm schmeckt, was sie kocht.«
    »Ich esse es gern.«
    »Du isst ja auch alles, was man dir vorsetzt.«
    Sie legten die Ohren wieder auf den Spalt in der Schranktür.
    Kurz darauf flüsterte der Junge: »Ich finde nicht, dass du hässlich bist.«
    »Pssst!«, zischte das Mädchen. Die tiefen Schatten im Schrank verbargen ihr Lächeln.
    Während des Sommers mussten sie viele Pflichten im Haushalt erledigen, gefolgt von endlos langem Unterricht in stickigen Klassenzimmern. An den besonders heißen Tagen flohen sie in den Wald, wo sie Vogelnester aufstöberten oder im trüben Bach badeten, und manchmal lagen sie stundenlang auf einer Wiese, sahen zu, wie die Sonne über den Himmel wanderte, und malten sich aus, wo sie ihren Bauernhof errichten und ob sie zwei oder drei weiße Kühe besitzen würden. Der Herzog verbrachte den Winter in seiner Stadtresidenz in Os Alta. Je kürzer und kälter die Tage wurden, desto nachlässiger waren die Lehrer, die lieber am Feuer saßen, Karten spielten und Kwass tranken, als zu unterrichten. Die älteren Kinder, im Haus eingesperrt und gelangweilt, vertrieben sich die Zeit, indem sie die jüngeren verprügelten. Also versteckten sich Junge und Mädchen in den ungenutzten Räumen des Herrenhauses, dachten sich Spiele für die Mäuse aus und versuchten, warm zu bleiben.
    Am Tag, als die Prüfer der Grischa kamen, saßen die beiden im Obergeschoss auf der Fensterbank eines staubigen Schlafzimmers und hielten Ausschau nach der Postkutsche. Statt dieser sahen sie, wie ein von drei Rappen gezogener Schlitten durch das weiße Steintor auf das Anwesen fuhr. Sie schauten zu, wie er lautlos durch den Schnee glitt und vor der Tür des herzoglichen Hauses hielt.
    Drei Gestalten stiegen aus, alle mit eleganter Pelzmütze und einer schweren Kefta aus Wolle – eine war karmesinrot, eine nachtblau, eine strahlend purpurrot.
    »Grischa!«, flüsterte das Mädchen.
    »Schnell!«, sagte der Junge.
    Sie schüttelten die Schuhe von den Füßen und liefen lautlos durch den Flur, eilten durch das leere Musikzimmer und versteckten sich hinter einer Säule auf der Empore, die einen Blick auf den großen Salon bot. Dort empfing Ana Kuja ihre Gäste am liebsten.
    Ana Kuja, vogelgleich in ihrem schwarzen Kleid, war schon dort und schenkte Tee aus dem Samowar ein. An ihrer Hüfte klimperte der große Schlüsselbund.
    »In diesem Jahr sind es also nur die zwei?«, fragte eine Frau mit leiser Stimme.
    Der Junge und das Mädchen spähten von der Empore in den unter ihnen liegenden Raum. Zwei Grischa saßen am Feuer: ein gut aussehender, in Blau gekleideter Mann und eine elegante, hochnäsig wirkende Frau in purpurroter Kefta. Der dritte, ein junger blonder Mann, vertrat sich im Zimmer die Beine.
    »Ja«, antwortete Ana Kuja. »Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind bei weitem die Jüngsten hier. Wir schätzen sie auf etwa acht Jahre.«
    »Sie schätzen?«, fragte der Mann in Blau.
    »Wenn die Eltern verstorben sind …«
    »Verstehe«, sagte die Frau. »Wir sind natürlich große Bewunderer Ihrer Einrichtung, aber es wäre wünschenswert, wenn sich der Adel in noch stärkerem Maße für das gemeine Volk einsetzen würde.«
    »Unser Herzog ist ein sehr großzügiger Mann«, sagte Ana Kuja.
    Oben auf der Empore nickten sich Junge und Mädchen wissend zu. Ihr Wohltäter, Herzog Keramsow, war ein gefeierter Kriegsheld und Freund des Volkes. Nach seiner Rückkehr von der Front hatte er sein Anwesen in ein Heim für Waisenkinder und Kriegswitwen umgewandelt. Jeder war angehalten, den Herzog in seine abendlichen Gebete einzuschließen.
    »Wie sind diese Kinder?«, fragte die Frau.
    »Das Mädchen hat ein Talent zum Zeichnen. Der Junge fühlt sich am wohlsten im Wald und in den
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