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Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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und sauste zwischen den Bäumen durch. Zum allerersten Mal in ihrem Leben hatte sie keine Angst vor dem Wald.
    Sie kreiste über Duwa, erblickte die Dorfstraße, den Friedhof und zwei neue Altäre. Während sie sich den Winter über am Tisch der Hexe den Bauch vollgeschlagen hatte, waren noch zwei Mädchen verschwunden. Aber damit würde jetzt Schluss sein. Sie umschwirrte krächzend das Lebkuchenmädchen und trieb es an, denn es war eine Kriegerin, die stellvertretend für sie streiten würde.
    Nadja ließ sich auf einer Wäscheleine nieder und sah zu, wie das Lebkuchenmädchen über die Lichtung auf das Haus ihres Vaters zuging, in dem lautstark gestritten wurde. Ob ihr Vater wusste, was Karina getan hatte? Ahnte er inzwischen, wer sie wirklich war?
    Das Lebkuchenmädchen klopfte und der Streit verstummte. Die Tür schwang auf und Nadjas Vater schaute forschend in das dämmrige Licht. Nadja erschrak, denn der Winter hatte ihn sehr mitgenommen. Seine früher breiten Schultern wirkten schmal und geduckt, und sogar aus der Entfernung konnte sie erkennen, wie schlaff seine Haut geworden war. Sie rechnete damit, dass er beim Anblick des vor ihm stehenden Ungeheuers aufschreien würde.
    »Nadja?«, stieß Maxim hervor. »Nadja!« Mit einem kehligen Schrei schloss er das Lebkuchenmädchen in die Arme.
    Karina erschien hinter ihm in der Tür, bleich im Gesicht und mit großen Augen. Nadja war enttäuscht. Warum zerfiel Karina nach einem Blick auf das Lebkuchenmädchen nicht zu Staub? Warum ließ sie sich durch den Anblick der heil und gesund vor der Tür stehenden Nadja nicht zu einem greulichen Geständnis hinreißen?
    Maxim zog das Lebkuchenmädchen ins Haus und Nadja ließ sich vor einem Fenster nieder, um zu beobachten.
    Nadjas Vater streichelte die glänzenden braunen Arme des Lebkuchenmädchens und bestürmte es mit Fragen, aber das Lebkuchenmädchen kauerte stumm vor dem Feuer. Nadja fragte sich, ob es überhaupt sprechen konnte .
    Doch das Schweigen schien Maxim nichts auszumachen. Er plapperte in einem fort, lachte, weinte, schüttelte ungläubig den Kopf. Karina stand wie üblich hinter ihm und sah zu. In ihrem Blick lag Angst und außerdem etwas Befremdliches – fast so etwas wie Dankbarkeit.
    Dann ging Karina zu dem Lebkuchenmädchen, strich ihm über die weichen Wangen und die Zuckergusshaare. Nadja wartete darauf, dass Karina sich verbrannte und laut schrie, weil sich das Fleisch ihrer Hand abpellte wie Rinde; sie wartete darauf, dass unter der samtigen Haut keine Knochen, sondern Äste zum Vorschein kamen, die schreckliche Gestalt des Khitka .
    Stattdessen senkte Karina den Kopf und schien ein Gebet zu murmeln. Dann nahm sie ihren Mantel vom Haken.
    »Ich gehe zu Baba Olja.«
    »Ja, ja«, sagte Maxim, der den Blick nicht von seiner Tochter lösen konnte.
    Sie flieht, dachte Nadja entsetzt. Und das Lebkuchenmädchen unternahm nichts, um sie daran zu hindern.
    Karina band ein Kopftuch um, zog die Handschuhe an und trat ins Freie. Sie schloss die Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Nadja hüpfte krächzend auf der Fensterbank auf und ab.
    Ich muss ihr folgen, dachte sie. Ich picke ihr die Augen aus.
    Karina hob einen Stein vom Weg hoch und warf ihn auf Nadja.
    Nadja krächzte empört.
    Doch Karina klang freundlich, als sie sprach. »Flieg davon, mein Vögelchen«, sagte sie. »Es gibt Anblicke, die man sich besser ersparen sollte.« Mit diesen Worten verschwand sie.
    Nadja schlug mit den Flügeln. Was sollte sie tun? Sie warf noch einen Blick durch das Fenster.
    Ihr Vater hatte das Lebkuchenmädchen auf seinen Schoß gezogen und streichelte die weißen Haare.
    »Nadja«, sagte er immer wieder. »Nadja.« Er liebkoste eine braune Schulter, drückte seine Lippen auf die Haut.
    Nadjas kleines Herz hämmerte gegen ihre hohlen Knochen.
    »Vergib mir«, murmelte Maxim. Unter seinen Tränen löste sich der Zuckerguss auf dem sanft geschwungenen Hals des Lebkuchenmädchens auf.
    Nadja erschauderte. Sie ließ ihre Flügel verzweifelt gegen die Fensterscheibe flattern. Ihr Vater schob eine Hand unter den Rock des Lebkuchenmädchens, aber es wehrte sich nicht.
    Das bin ich nicht, sagte Nadja zu sich selbst. Das bin nicht wirklich ich.
    Sie musste an die Rastlosigkeit ihres Vaters denken, daran, wie er seine Pferde verloren hatte, seinen heißgeliebten Schlitten. Und davor … davor waren Mädchen an anderen Orten verschwunden, eine hier, eine dort. Geschichten, Gerüchte, Verbrechen, die sich weit entfernt
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