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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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Premiere?«
    »Ach Kindchen, das nennt man Drama. Und kümmere dich bitte um Charles Manson. Er ist noch nicht so weit. Ich denke, zwei bis drei Wochen wird er noch brauchen. Er ist ja nicht der Allerschnellste, und ich habe das untrügliche Gefühl, dass er Bedienstete gerne um sich hat. Wie auch immer. Denk bitte an seine Allergie: Keine Heringe!«
    »Haben Sie Angst?«
    »Nicht wirklich«, sagte sie, schaute wieder hinaus aufs Meer und dachte: Doch, sehr sogar. Es war ja ihr erstes Rendevouz. Mit dem Tod. Und wie bei jedem ersten Mal, war sie ein wenig aufgeregt. Aber das würde sich schon wieder legen, sobald sie sich näher kennengelernt haben. Als Wienerin wurde ihr das Abfahren ja in die Wiege gelegt. Mit rosa Schleifchen und besten Wünschen für die Zukunft. Für Feiglinge war da kein Platz, die wurden einfach unter den Teppich gekehrt. Dabei gab es doch nichts Größeres. Unheimlich und faszinierend zugleich. Immer schon. Wenn auch nur für eine sehr, sehr kurze Zeit. Und das ist das Ärgerliche am Tod, dachte sie, dass man ihn nicht genießen kann.
    Zwei bis drei Monate, hatte Mandelberg ihr am Telefon gesagt. Höchstens. Die Ergebnisse waren wohl eindeutig. Als er anfing, von Zytogenetik zu sprechen, hatte sie abgeschaltet, nicht mehr zugehört, das war nicht ihre Welt. Und es spielte auch keine Rolle mehr. Sie wusste, was zu tun war, vor Jahren schon entschieden. Nie war ihr in den Sinn gekommen, in den letzten Momenten zu hospitalisieren. Sie war durchaus eine Kriegerin, aber Schmerzen lehnte sie prinzipiell ab, insbesondere wenn sie zu nichts führten. Glücklicherweise hatte der hiesige Pferdedoktor Schmerzmittel in Kompaniegröße parat, sonst hätte sie in den letzten Wochen weit weniger gut ausgesehen.
    Alles war vorbereitet, alles erledigt. Die Briefe an ihre Freundinnen hatte sie erst gestern Morgen losgeschickt. Lange Briefe. Mit kleinen persönlichen Anekdoten und großzügigen Portionen Pathos versehen. Sie erwartete Trauer, Tränen und Verzweiflung, das ganze Programm, ein rauschendes Fest natürlich auch, das war Bedingung, mindestens. In Fines Brief legte sie noch den kleinen Anhänger mit hinein, den sie immer so mochte, den aus dem Kaugummiautomaten, 1967, als sie beide hochkantig betrunken in dunkler Nacht durch Wien taperten, lauthals Come on baby light my fire sangen und ihre letzten Schillinge in den quietschroten Kasten an der Backsteinmauer warfen. Heraus kamen jedoch keine Kaugummis, sondern sensationelle Geschenke, in kleinen Kapseln eingeschlossen, die sie erst öffnen mussten. Und dann: Überraschung pur, grenzenlose Ekstase auch. Fine erwischte ein schwarzes Stück Gummi, das sich als glibberige Fledermaus entpuppte. Wollte sie schon immer haben. Kreisch. Gretchens Geschenk aber war nicht weniger als eine Utopie, nie gesehen, nie geahnt, das ein Wunder dieser Art überhaupt existierte. Verloren lag es in ihren Händen, ein winziges, durchsichtiges Nilpferd, als Kettenanhänger gedacht, billiges Plastik, gewiss, und doch ein seltenes Juwel, das sie stets bei sich trug, ganz gleich, wie gefühlsduselig das war.
    Immer mehr Geschichten drängten sich auf, aus allen Ecken und Winkeln kamen sie gekrochen und geflogen, als wollten sie noch ein letztes Mal gehört werden, all diese Erinnerungen, die mit ihr gingen, all diese Beziehungen, die fortan nicht mehr existierten, adieu ihr Lieben, schön war’s. Meistens jedenfalls. Dieses Leben voller Juhus und Ojes, so, wie es eben sein sollte, stand immer unter ihrem Lieblingsmotto: Lebe schnell und sterbe jung. Ganz so jung, das mochte sie festhalten, war ihr allerdings weniger recht. Aber an wen nur wollte sie einen Beschwerdebrief adressieren?
    Komisch, dachte sie, wie störrisch so ein Lebenwollen sein konnte, es zerrte wie ein kleines Kind am Rockzipfel seiner Mutter. Es ist eben doch ein Unterschied, die Hauptrolle zu spielen und nicht Regie zu führen. Dabei konnte sie sich nie und nichtmals an ein Vorsprechen erinnern.
    Haltung.
    Annehmen.
    Der Vater hatte ihr damals gezeigt, wie man in Würde ging. »Meine Tochter«, hatte er gesagt, »es ist an der Zeit, mal etwas Neues auszuprobieren.« Und dann schlief er einfach ein. In seinem Bett. Um das sie alle gestanden und gewartet hatten, dass er endlich starb, wo er doch schon so lange lag, dieser stolze, große Mann, den sie nicht verlottern sehen wollte, nicht vegetieren, und der das selbst auch nie wollte, und dann war es gut, so gut es eben sein konnte. Vom ersten Tag an hatte sie
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