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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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zurückzukehren. Und nun war es an ihr, Abschied zu nehmen. Sie wusste, was zu tun war. Gelernt war gelernt. Zweimal schlug sie leicht auf seinen Kopf, so, wie er es gern hatte. Drei Mal war zu viel, da schnappte er, und einmal war zu wenig, da gab es einen Heidenlärm.
    Orrk.
    Nun.
    Denn.
    Sie öffnete die knirschende Haustür, nahm den Rollkoffer und den Korb, ging hinaus, stellte ihr Gepäck neben die kleine Steinmauer, schloss die Tür hinter sich, ging zwei Schritte auf ihren Assistenten zu, blieb stehen, drehte sich einmal um ihre eigene Achse und fragte: »Wie sehe ich aus?«
    Und dann musste sie kurz lächeln. Weil es so klang, als würde Kyell sie zu einem Rendezvous abholen, als würden sie gemeinsam auf den High School Ball ’55 in Amarillo gehen und als wäre sie ganz aufgeregt, ob ihr Kleid ihm auch gefalle. Komisch war das, sehr komisch.
    Kyell schaute sie verwirrt an und sagte: »Sie können alles tragen, sogar ein Lächeln.«
    Herrje, dachte sie, Jungs in diesem Alter konnten so schrecklich kitschig sein, fürchterlich.
    »Sei so lieb und nimm bitte mein Gepäck.«
    Kyell schaute auf den schwarzen Rollkoffer und auf den Korb zu ihren Füßen. Er war irritiert. In dem Korb lagen ein Laib Brot und ein Laib Käse, eine Flasche Rotwein und eine Flasche Wasser, zwei Bananen und zwei Kiwis.
    »Warum haben Sie den Korb mit dabei?«
    »Falls ich unterwegs Hunger oder Durst bekomme?«
    »Und warum einen Koffer?«
    »Man kann nie wissen. Ich möchte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Und jetzt hör auf zu fragen, trag.«
    Kyell nahm den Korb und rollte den schwarzen Koffer hinter sich her, schlaksig ungelenk, ganz bei sich. Die Frau Intendantin schritt voran, sie kannte den Weg ja schon. Bis zur kleinen Bucht waren es keine zehn Minuten Fußmarsch. Sie gingen den Weg an den wilden Wiesen vorbei, die im Morgenlicht kunterbunt schimmerten. Allerlei Unkraut wütete auf ihnen, und da sie wusste, dass ihr junger Begleiter ganz verrückt nach Biologie war, fragte sie ihn nach den Namen der Gestrüppe, und Kyell erzählte mit ungestümer Begeisterung von Wolfswurz, Knöterich und Löffelkraut und geriet nahezu ins Schwärmen über das magische Gelb der Winterlinge und Trollblumen, als habe er jahrelang auf diese Frage gewartet, als sei er vorbereitet gewesen, für diesen Moment, diesen einen.
    Als sie die Bucht erreichten, kannte Gretchen Morgenthau jeden einzelnen Grashalm persönlich. Dankbar war sie deswegen nicht. Sie wies ihren Assistenten mit einer beiläufigen Handbewegung an, das Gepäck abzustellen. Sie schaute sich um. Keine Menschenseele weit und breit. Sie waren alleine. Auch das Schreckgespenst war nicht zu sehen, ein Glück. Einzig das rote Ruderboot war anwesend, vertäut am hölzernen Steg. Das Wasser glitzerte und ein letzter Restnebel schieierte auf der Oberfläche. Ruhig war es, kaum Wellengang, ein sanftes Plätschern, mehr nicht. Sie setzten sich auf die Bank rechts in der Nähe des Stegs. Vandalen hatten sich an ihr zu schaffen gemacht. Namen waren ins Holz geschnitzt. Mikkel + Holma, Boje + Janne, frisches Gemüse, dessen neues Hobby die Liebe war. Nichts änderte sich, nie und niemals. Warum auch. Sie schauten schweigend aufs Meer hinaus. Beruhigend, so ein Hinausschauen, nahezu unheimlich. Und vielleicht hätten sie noch ein oder zwei Jahre so dasitzen, über die Welt, das Universum und überteuerte Stützmieder nachdenken können, aber ein Schmetterling mit einem ausgeprägten Gespür für den falschen Moment flatterte rüde torkelnd auf sie zu, bekam im letzten Moment noch die Kurve und verlor sich wieder im Dickicht.
    »War das ein Nachtfalter?«
    »Nein, ein Trauermantel«, sagte Kyell, »die gibt es hier nur sehr selten.« Und er überlegte, ob er sie beeindrucken sollte, mit Bildung, mochte sie doch, so etwas, und ein ganz klein wenig von der alten Sprache hatte er noch behalten, und es hieß doch immer, den Mutigen gehöre die Welt, also: »Wussten Sie, dass das altgriechische Wort für Schmetterling so viel wie Atemhauch oder Seele bedeutet?«
    Nein, wusste sie nicht. »Hübsch.«
    Und da sie es anscheinend ernst meinte und es gerade so gut lief, fügte er noch hinzu: »Und wussten Sie« – denn das hatte er selbst erst vor einer Woche erfahren, er war da völlig überrascht worden, von dieser sensationellen Meldung – »dass Stockenten ein Faible für homosexuelle Nekrophilie haben?«
    Diesmal aber erntete er nur den tödlichen Blick. Er wusste mittlerweile, was dieser
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