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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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Blick bedeutete, die nonverbale Ermahnung, dass er zu weit gegangen war, dass es Grenzen gab. Ende der Biologiestunde. Er hatte sie ein wenig besser kennengelernt in den letzten drei Wochen. Kein Wunder, dachte er, und spulte zurück:
    Es gab Tage, da verbrachte er 18 Stunden an ihrer Seite. Im Theater war er ihr Schatten, er führte das Regiebuch, notierte Auftritte, Positionen, Abgänge, kochte Kaffee, verteilte Textänderungen, organisierte dies, aber auch das und war Ansprechpartner für alle Wehwehchen aller. Die Hölle. Jeden zweiten Abend kochte er für sie, meistens sehr spät noch, sie war fast immer erschöpft von den langen Tagen. Er auch. Und dann gab es diese Momente, diese Gespräche, in denen er mehr übers Theater lernte, das ihn nach wie vor nicht wirklich interessierte, und dann gab es diese vielen nützlichen Tipps, die sie ihm schenkte, aus einer Großzügigkeit heraus, die ihn überraschte. Falls er jemals Mascara für sich entdecken sollte, so wusste er nun, dass er die Wimperntusche zunächst zwei Tage lang offen lassen musste, um die perfekte Konsistenz zu erhalten. Und dann sagte sie noch, einfach so und ganz nebenbei, was seine Berufung sei. Als wäre es völlig logisch, als gäbe es da gar keine Frage und kein tägliches Kopfzerbrechen. Nichts – mit Ausnahme von Milla vielleicht – beschäftigte ihn mehr, als seine Suche nach Bedeutung, nach irgendeiner Bedeutung, die er erfüllen konnte, die allem einen Sinn gab. Wer war er schon? Er hatte weder besondere noch sonderbare Eigenschaften, er war nicht sportlich begabt noch musikalisch talentiert, er besaß keinen großen Ehrgeiz für Nichts und Wiedernichts, er war einfach nur durchschnittlich, ein ganz normaler Junge, der nicht wusste, wohin mit sich und warum überhaupt alles war, wie es war, und warum denn nicht anders. Und dann sagte sie, an einem Abend, an dem er eine einfache Kürbiskernsuppe servierte, er solle Koch werden. Einfach so. Seine Begabung. Punkt. Er müsse nur raus und bei den Großen lernen.
    In den letzten Tagen konnte er kaum an etwas anderes denken.
    »Ich fürchte mich vor der neuen Welt«, sagte er in die Stille hinein.
    »Zu Recht«, sagte sie und runzelte verwirrt die Stirn.
    »Werde ich glücklich?«
    Glücklich? Was war denn das für eine fürchterliche Frage? Nein, du wirst selbstverständlich nicht glücklich. Sensible junge Männer werden nicht glücklich, das liegt nicht in ihrer Natur. Aber es wird glückliche Momente geben, und du wirst lernen müssen, sie bei dir zu behalten und unterwegs nicht zu verlieren. So ungefähr stellte sie sich die Antwort als engagierte Sozialpädagogin vor, aber das wäre ihr zu lang gewesen, und deshalb sagte sie nur: »Nein.« Er würde noch früh genug zu eigenen Erkenntnissen gelangen. Erfahrungen gehörten zum Leben, schmerzhafte sowieso.
    »Ich glaube, Leben wird überschätzt.«
    Sie sah ihn lange an. Sie wusste, dass ihr junger Assistent die Passion seines Großvaters teilte, sie kannte solche Menschen zur Genüge, ein beliebter Zeitvertreib so vieler Künstler, denen sie begegnet war, und da sie ihn ja doch irgendwie mochte, zumindest aber nicht restlos verachtete, und da auch niemand sonst zuschaute, der von ihrer ausufernden Warm- und Barmherzigkeit hätte berichten können, öffnete sie für einen kurzen Moment ihr eisernes Künstlersein und sagte:
    »Hör bitte auf mit dieser Weicheierei, Junge. Geh hinaus. Das Leben ist fürchterlich und großartig, es ist romantisch, traurig und lustig, meistens ist es ein Plätschern und oft genug ein grausames Spiel, es ist ungerecht und verachtungswürdig, ein schlechter Witz und voll von Niedertracht, aber es ist dein Abenteuer, das einzige, das dir und nur dir gehört. Du solltest also gut darauf aufpassen. Und noch ein kleiner Ratschlag, ganz umsonst: Die Menschen sind zu 90 Prozent schlecht, halte dich an die anderen zehn Prozent und du wirst Spaß haben.«
    »Aber wie erkenne ich die?«
    »Gar nicht. Und bevor du nach einer weiteren Weisheit fragst: So weit ich mich erinnere, bin es doch ich, die Abschied nimmt, um die es hier geht, oder etwa nicht?«
    »Doch, natürlich«, sagte Kyell und schämte sich sogleich für seine Selbstsucht. Und er fragte sich, weil man das doch so tat zum Abschied, ob er sie einmal in den Arm nehmen sollte, als Geste, aber nein, natürlich nicht, das war albern, das hätte sie nicht gewollt, bestimmt nicht. Oder doch? Nein, auf keinen Fall.
    »Warum fahren Sie eigentlich vor der
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