Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
Vom Netzwerk:
steckte es unter ihren rechten Arm, nahm den Kaffee und ging in Richtung Haustür. Frisch geduscht. Aber beileibe noch nicht ausgehfein. Sie hatte noch ihren seidenen, weißen Pyjama an, der ihr immer Glauben schenkte, sie sei eine japanische Kampfkünstlerin, die mit ihrem Langschwert von Meister Masamune ehrenhalber Köpfe abschlägt. Und Arme und Beine und Genitalien und Hände und Füße und Finger und Zehen und so weiter. Sie schaute verträumt und im Blutrausch schwelgend auf den Boden, stockte und brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, dass dort etwas lag. Etwas, das dort nicht hingehörte. Heimlich hatte jemand einen Zettel unter die Haustür geschoben. Sie bückte sich, hob ihn auf und betrachtete ihn eine Zeit lang verwundert. Als sie ihn auffaltete, keimte Erinnerung. Das Aquarellpapier roch nach Sandelholz und Bergamotte. Und in Schönschrift stand geschrieben: An Tagen wie diesen malt sie die Welt widdewiddewie sie ihr gefällt. Sie zerknüllte den Zettel und steckte ihn in ihre Hosentasche. Dann öffnete sie die Tür und ging hinaus.
    Es war noch früh am Morgen, Tau benetzte die Natur und glitzerte im Bodennebel wie ein verborgener Silberschatz. Und es wehte. Von Westen nach Osten. Oder umgekehrt. Wer wollte das schon sagen. Sie stieg die Anhöhe hinauf, an der Schwarzdornhecke vorbei, um den kleinen Hafen sehen zu können, in dem die Fischer jeden Tag aufs Neue ein- und ausliefen. Henrik sah sie besonders gerne ein- und auslaufen. Einfach so. Sie breitete das Handtuch aus, setzte sich in das weiche Gras, schlug die Beine übereinander und stützte sich mit ihren Händen nach hinten ab. Die Erde war noch feucht, die Halme kräftig und von scharfer Kante. Sie spürte ein Pochen, ein leichtes Beben, als habe Poseidon Aufstoßen. Der Wind streunte ihre langen Haare kreuz und quer. Sie waren frisch gewaschen, und sie musste sich Sorgen machen, um eine Erkältung, tat es aber nicht. Sie atmete tief ein. Die Luft schmeckte. Nach mehr. Als wäre sie rar. Oder ein Sonderangebot. Auf ihren Unterarmen pilgerten Armeen kleiner Elefanten und hinterließen eine wenig schöne Gänsehaut. Es war nicht wirklich kalt, zwölf Grad vielleicht, und auch die Sonne war nicht schüchtern, nur schwach. Und nieder fielen Blätter. Die ersten des Jahres. Bald schon würden sie welk sein. Natürlich. Was auch sonst. Lieblich waren all diese Gedanken. Nichtsnutzig. Und doch waren es ihre, ungefiltert, da konnte sie nichts machen. Momente, Eindrücke, kein Hinterfragen, nur Dasein. Sie hatte ja nie geglaubt. Glaube war etwas für kleine Jungs. Und manchmal, dachte sie, wäre sie gerne ein kleiner Junge gewesen. Im Gottvertrauen über Hügel springen, Blechdosen gegen Mauern schießen und Bedürftigen Backpfeifen schenken. Das hätte ihr gefallen. Sehr.
    Drei Wochen lang war sie durch die Hölle gegangen. Drei Wochen Proben mit einem Haufen Dilettanten, der kaum mehr konnte, als sich die Schuhe zubinden. Ihr erstes Kindertheater, eine Erfahrung, die sie gerne hätte missen wollen, die vom Umtausch allerdings ausgeschlossen war. Die beiden Hauptproben und die Generalprobe liefen eher ganz schlecht als schlecht. Und damit konnte sie noch einigermaßen zufrieden sein. Sie hatte einen Ganz als Tasso erlebt, einen Voss … aber nein, was sollte das denn … müßig, so ein Vergleich. Es waren Laien, die schauspielerten Schauspieler zu sein in einem Stück, das ihre natürlichen Grenzen weit überschritt. Sie hatte mit ihnen gekämpft, sie angeschrien, angefleht, liebkost, ermordet, all das, was man so tat, um das Beste herauszuholen. Es war nicht viel, beileibe nicht, und selbst im Traum war sie nie davon ausgegangen, dass sie es überhaupt so weit schaffen würde. Sie musste unendlich viel streichen, umschreiben, vereinfachen, anders wäre es nicht gegangen. Bei den Besetzungen musste sie auf das notwendige Übel zurückgreifen, hier und da gar zwangsrekrutieren. Aus ihrem Regieassistenten hatte sie kurzerhand Peer Gynt gemacht, doch als Schauspieler war er nicht minder enervierend, nur lauter. Ständig wollte er die »komplexe und diffizile« Szene wiederholen, in der er auf einem Bock durch Jotunheimen ritt. Der Bock war in einer Zweitrolle Lehrer Magnus.
    Sie war am Ende ihrer Kräfte, und nie hätte sie zugegeben, dass es auch gute Momente gab, lustige, merkwürdige, traurige. Einen Wimpernschlag erst her. Keine Ruhe nirgends. Unentwegt scharmützelte es in ihrem Kopf und die Zeit stürmte vornweg, unmöglich, Luft zu holen, an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher