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Grenzgaenger

Grenzgaenger

Titel: Grenzgaenger
Autoren: Hiltrud Leenders , Michael Bay , Artur Leenders
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Abnehmen?», schlug van Appeldorn freundlich vor.
    Heinrichs warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
    «Seid ihr schon bei der Arbeit?»
    Breitenegger zwängte sich mit einem Aktenstapel unter dem Arm an ihm vorbei zu seinem Schreibtisch. Dabei entdeckte er Astrid. «Ach, Frau Steendijk, sind Sie jetzt wieder bei uns? Gut, gut.» Er setzte sich und holte Pfeife und Tabak aus der Jackentasche. «Dann wollen wir mal die Ermittlungsakten für die Staatsanwaltschaft abschließen.»
    «Die Kindesmisshandlung?» Astrid klang bedrückt. «Habt ihr öfter mit so etwas zu tun?»
    «Nein», antwortete Toppe, «aber das will nichts heißen. Bei uns landen ja auch nur die allerschlimmsten Fälle, die mit schwerer Körperverletzung oder eben Todesfolge, wie in diesem Fall. Ein knapp zweijähriges Mädchen, das von dem Freund der Mutter dermaßen geschlagen wurde, dass es schließlich einen Milzriss hatte und daran starb.»
    «Mein Gott, wie furchtbar», sagte Astrid leise. «Und wenn man bedenkt, dass immer nur die Sachen bekannt werden, die jemand anzeigt …»
    «Ja», bestätigte Toppe, «die Dunkelziffer ist wahnsinnig hoch.»
    «Ich kann so etwas nicht verstehen.» Astrids Stimme wurde lauter. «Wenn ich mitkriegen würde, dass jemand sein Kind misshandelt, würde ich das doch sofort anzeigen. Da würde ich keinen Augenblick zögern.»
    Im Labor oben entlud sich ein weiteres Gewitter.
    «Das sagt sich so leicht», mischte sich van Appeldorn ein. «Wie will man denn herausfinden oder gar beweisen, dass ein Kind tatsächlich misshandelt wird? Wenn’s jeden Abend schreit? Gut, dann kann ich vielleicht hingehen und die Eltern fragen, was los ist. Und die erzählen mir dann, das Kind hätte Blähungen oder so was. Wie will ich das denn überprüfen? Die lassen mich doch wohl kaum in die Wohnung und nachgucken.»
    «Aber wenn das Kind Verletzungen hat, dann sieht man das doch.»
    «Und? Dann ist es eben die Treppe runtergefallen.»
    «Ja, aber man kann das Kind doch fragen», beharrte sie.
    «Und Sie glauben, da käme was bei raus?», mischte sich jetzt auch Heinrichs ein. «Meistens sind die doch noch so klein, dass sie gar nicht sprechen können. Und die Älteren sind schon so kaputt, dass sie gar nichts mehr sagen.»
    Oben zog eine Elefantenherde durchs Labor.
    «Aber es muss doch Möglichkeiten geben …»
    «Eigentlich nur, wenn jemand direkter Zeuge einer Misshandlung wird oder wenn jemand aus der Familie nicht mehr mitspielt. So wie in diesem Fall hier, wo die Mutter dann doch schließlich Anzeige gegen ihren Freund erstattet hat. Aber von außen, als Nachbar oder Lehrer oder was weiß ich, da hat man so gut wie gar keine Chance», sagte Toppe.
    «Wie grausam.»
    «Ja, verdammt grausam. Und es ist ja auch noch die Frage: Wo fängt Kindesmisshandlung überhaupt an? Bei Schlägen? Ich glaube, es gibt da sehr viel subtilere und genauso grausame Möglichkeiten», fuhr Toppe fort.
    Aus dem Labor hörte man einen kurzen, trockenen Knall.
    «Das kann man wohl sagen», ergriff Heinrichs das Wort. «Die Freundin meiner Frau ist Erzieherin in einem Kindergarten in Goch, und die hat eine Geschichte erzählt, bei der einem die Haare zu Berge stehen. Sie haben da im Kindergarten einen vierjährigen Jungen, der wohl schon immer durch sein merkwürdiges Verhalten aufgefallen ist. Immer, wenn der in Streitigkeiten oder Rangeleien verwickelt wurde, war er plötzlich ganz steif und fing dann an zu zittern. Aber er hat sich nie gewehrt, auch nicht, wenn die anderen ihm eins auf die Nase gegeben haben. Und wenn er sich weh tat, dann hat er nie geweint oder geschrien. Und dann stellt sich nach langen Gesprächen mit der Mutter raus, wie dieses Kind so lebt. Die Eltern – beide Pädagogen, wohlgemerkt – haben eine ganz genaue Vorstellung davon, was aus ihren Kindern einmal werden soll und wie man das erreicht. Der Junge wird jeden Morgen fünf Minuten lang eiskalt geduscht, damit er richtig abgehärtet wird. Die Eltern haben ihm versprochen, wenn er das dreihundertmal – man stelle sich das mal vor: dreihundertmal, ein vierjähriges Kind –, wenn er das durchhält, dann kriegt er ein richtiges Indianerzelt. Für 29,90 bei Woolworth. Indianer sind sein großes Vorbild, klar, genau wie bei uns damals. Die weinen nämlich nie, auch nicht, wenn sie sich weh tun. Der ältere Bruder ist im dritten Schuljahr und muss jeden Tag, nach seinen Hausaufgaben, einen Aufsatz schreiben, den die Eltern korrigieren und benoten. Und zwar wirklich jeden
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