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Grazie

Grazie

Titel: Grazie
Autoren: Chelsea Cain
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schlafen. Das Bad hatte
geholfen. Sie hatte den Gestank nach Zigarettenrauch aus dem Haar
bekommen. Aus irgendeinem Grund allerdings nicht den Geruch von Parkers
fettigem Popcorn.
    Sie sah zu dem weißen Laptop, der in einer Ecke auf dem Boden
stand. Die endgültige Version des Artikels über Molly Palmer war morgen
fällig. Der Scheißkerl würde endlich bekommen, was ihm zustand.
    Die Zimmertür wurde aufgerissen.
    »Mom!«, rief Susan.
    Susans Mutter Bliss sah erschrocken aus. Sie hatte die langen,
gebleichten Zöpfe um den Kopf gewickelt, der Baumwollkaftan fiel lose
und fließend um ihren drahtigen, yogagestählten Körper. Sie trug eine
japanische Teekanne auf einem Tablett aus geflochtenem Bast. »Ich
bringe dir nur Pfefferminztee«, sagte sie.
    Susan fuhr sich mit den Händen durch das nasse Haar und zog
die Knie bis an die Brust, um ihren nackten Körper zu verbergen.
Während ihre Mutter fünfzig war und den Körper einer Dreißigjährigen
hatte, war Susan achtundzwanzig und hatte den Körper einer
Fünfzehnjährigen. »Klopf an, okay? Ich will keinen Tee. Es hat ungefähr
vierzig Grad.«
    »Ich lasse ihn einfach hier«, sagte Bliss und bückte sich, um
das Tablett auf den Boden zu stellen. Sie sah Susan fragend an. »Hast
du Popcorn gegessen?«
    Susan war wieder zu ihrer Mutter gezogen. So nannte sie es
selbst allerdings nicht. Wer es hören wollte, dem erklärte sie, dass
sie sich vorübergehend bei ihrer Mutter ›aufhielt‹.
    Tatsächlich wohnte sie in ihrem alten Zimmer.
    Es war bis vor zehn Jahren Susans Zimmer
gewesen. Doch zwei Minuten, nachdem Susan ins College abgereist war,
hatte Bliss es in einen Meditationsraum verwandelt. Die Wände waren mit
einem hellen Orangeton gestrichen, vor den Fenstern hingen indische
Vorhänge mit Silberperlen, und den Boden bedeckten Reisstrohmatten. Es
gab kein Bett oder sonstige Möbel, aber Bliss hatte vorsichtshalber
eine Hängematte aufgespannt, falls einmal ein Gästebett benötigt werden
sollte. Als Susan anregte, sie könnte beispielsweise eine Luftmatratze
oder einen Futon kaufen, hatte Bliss erklärt, ein Viertel der
Menschheit schlafe in Hängematten und diese hier sei eine echte,
dreifach gewebte Hängematte aus Yukatan, nicht vergleichbar mit dem
Mist, den sich die Leute in die Gärten hängten. Susan wusste, dass es
keinen Zweck hatte, mit ihrer Mutter zu streiten. Aber seit ihrer
ersten Nacht in der verdammten Hängematte, konnte sie sich nicht
umdrehen, ohne dass ihr ein stechender Schmerz ins Schulterblatt
fuhr – dreifach gewebt oder nicht.
    Der Raum roch nach dem süßlichen, schalen Rauch von hundert
chinesischen Räucherstäbchen. Bei dieser Hitze war es noch schlimmer,
und selbst mit offenen Fenstern war die Luft im oberen Stockwerk
drückend wie zu enge Kleidung. Wenigstens bot die Hängematte Belüftung.
    Susan sagte sich, sie würde sich eine Wohnung suchen, sobald
sie die Geschichte über die Beziehung des Senators mit Molly Palmer
beendet hatte. Sie konnte keine Zeit damit vergeuden, Mietangebote zu
studieren und Wohnungen zu besichtigen. Der Artikel hatte Priorität.
    Sie stand auf, ging zu ihrem Laptop, setzte sich auf den Boden
und klappte den Monitor auf. Der Artikel leuchtete weiß auf dem blauen
Schirm. Der Cursor blinkte. Sie begann zu tippen.
    Sie wäre eher gestorben, als dass sie die Wahrheit verraten
hätte: Sie hatte Angst, allein zu sein. Sie spürte immer noch den
Gürtel um ihren Hals. Sie hatte immer noch Albträume vom Heimweg-Würger.
    Sie fügte Lodges ›kein Kommentar‹ in den zweiten Absatz des
Artikels ein und lächelte. Es war noch nicht so lange her, dass sie
Erlebnisberichte und reizende Features über Lachs-Festivals und
Holzfäller-Shows geschrieben hatte.
    Viel hatte sich geändert in den letzten neun Wochen, seit sie
den Auftrag bekommen hatte, ein Porträt über Archie Sheridan bei der
Jagd nach dem Würger zu schreiben. Sie hatte sich verändert.
    Sie hatte in den letzten zwei Monaten etwa ein Dutzend Mal
überlegt, ob sie Archie anrufen sollte. Aber sie hatte es nie getan. Es
gab keinen Grund dafür. Ihre Serie mit dem Porträt war erschienen. Er
hatte eine freundliche Anmerkung zu ihrem letzten Artikel über den
Würger geschickt und ihr alles erdenklich Gute gewünscht. Keine
Einladung auf einen Kaffee. Kein: ›Wir bleiben in Verbindung‹.
Vermutlich hatte er andere Dinge im Kopf.
    Es war auch besser so. Verlieb dich nicht in ältere, gebundene
Männer, so lautete ihre neue Regel. Und Archie
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