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Grazie

Grazie

Titel: Grazie
Autoren: Chelsea Cain
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ihn abzugeben. Er war die ganze Zeit an seinem
Schlüsselring verblieben, als stetige Erinnerung daran, was er verloren
hatte. Als sie ihn aufgefordert hatte auszuziehen, war er in einer
schrecklichen Verfassung gewesen. Er hatte das Krankenhaus erst wenige
Monate zuvor verlassen und sich noch in den schwärzesten Tiefen seiner
Genesung befunden. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte sie dazu
gezwungen. Es war leichter, allein zu sein.
    Er zog die Pillendose aus der Tasche, öffnete sie und entnahm
ihr drei weiße, ovale Tabletten. Er hielt sie einen Moment in der Hand,
ehe er sie in den Mund steckte, den vertrauten bitteren Geschmack
genoss und sie schluckte. Dann steckte er den Schlüssel ins Schloss und
stieß die breite Tür auf. Das Haus war ein Bungalow im Ranchstil aus
der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das die Vorbesitzer renoviert
hatten. Debbie war gerade mit Sara schwanger gewesen, als sie es
gekauft hatten. Es lag weit über seinen Einkommensverhältnissen, aber
Debbie hatte kurz zuvor eine Anstellung als Designerin bei Nike
bekommen, deshalb hatten sie es sich gegönnt.
    Debbie hatte eine Lampe brennen lassen, sie warf einen warmen
Halbkreis aus Licht in den ansonsten dunklen Flur. Archie streifte
seine schlammbedeckten Schuhe an der Tür ab, ging zu dem Flurtisch und
legte die Schlüssel neben die Lampe. Ein Foto von ihm, Debbie und den
Kindern stand in einem Silberrahmen auf dem Tischchen. Er sah glücklich
aus darauf, aber er konnte sich nicht erinnern, wann und wo es
aufgenommen worden war.
    Er spürte Debbie im Rücken, ehe sich einen Augenblick später
ihre Arme um seine Taille legten.
    »Hallo«, sagte sie.
    Sie legte die Wange an sein Schulterblatt und drückte ihn.
»War es schlimm?«
    »Ich habe schon Schlimmeres gesehen.« Das blieb einige
Augenblicke im Raum stehen. Dann drehte sich Archie um und umarmte sie.
Debbies kurzes braunes Haar war zerzaust, sie trug ein schwarzes,
ärmelloses Top und eine rote Baumwollunterhose. Ihr Körper war
durchtrainiert und kräftig. Es war ein Körper, den er so gut kannte wie
seinen eigenen. »Den Kindern geht's gut?«, fragte er.
    Sie küsste ihn sanft auf den Hals. »Sie schlafen seit Stunden.«
    Archie legte eine Hand an Debbies Wange und betrachtete ihr
Gesicht, das freundlich und offen war, mit starken Wangenknochen, einer
langen, zierlichen Nase und einem Hauch von Sommersprossen. Und dann
plötzlich ein Aufblitzen von blondem Haar, der Duft nach
Flieder – und da war sie: Gretchen Lowell, immer am Rande
seines Bewusstseins. Archie zuckte zusammen.
    Er spürte, wie sich Debbie in seinen Armen anspannte.
    »Ist sie es?«, fragte sie.
    Er räusperte sich und verscheuchte das Bild aus seinem Kopf.
Löste die Hand von Debbies Wange. »Ich sollte ein wenig schlafen.« Er
hätte die Pillen gern noch einmal aus der Tasche geholt, um nur noch
eine zu nehmen, aber er wollte es nicht vor Debbie tun. Es tat ihr zu
sehr weh.
    »Ist es schwer, sie nicht zu sehen?«
    Archie fragte sich manchmal, wie viel Debbie über seine
Beziehung zu Gretchen wusste. Sie wusste, dass Gretchen ihn in seinen
Gedanken verfolgte. Sie hätte vielleicht das Wort ›besessen‹ benutzt.
Aber er glaubte nicht, dass Debbie wusste, wie weit er die Grenze
überschritten hatte.
    »Wir wollten doch nicht darüber reden«, sagte er sanft.
    Debbie drehte Archie herum, sodass er in den Spiegel blickte,
der hinter dem Tisch an der Wand hing. »Schau«, sagte sie, schob die
Hand unter sein Hemd und hob es über seine Brustwarzen hoch. Archie
zögerte, ehe er ihrer beider Spiegelbild ansah. Seine Exfrau schmiegte
sich seitlich an ihn, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, ihre dunklen
Augen glänzten. Sein Gesicht lag halb im Schatten, es sah faltig aus,
mit der langen Nase und dem asymmetrischen Mund, dem dichten Haar und
den traurigen Augen, jedes Merkmal eine Erinnerung an einen Vorfahren,
Ire, Kroate, Jude. Er erlaubte sich ein schiefes Lächeln. Himmel.
Selbst sein Genotyp war eine Tragödie.
    Debbie fuhr mit einer Hand über seinen Bauch und berührte die
lange Narbe über dem Zwerchfell, wo seine Milz entfernt worden war. Es
war seine dickste Narbe, ein hässlicher, fünfzehn Zentimeter langer
Schnitt, die erhöhten weißen Narben von den Nähten rundherum verliehen
ihr ein besonders markantes Frankenstein-Aussehen. Das Narbengewebe war
hart, und er spürte kaum, wie Debbies Fingerspitze darüberstrich. Sie
ging dann zu den kleineren Narben weiter, von denen seine Brust
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