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Grazie

Grazie

Titel: Grazie
Autoren: Chelsea Cain
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übersät
war. Diese waren feiner, das Skalpell hatte eher zum Zeitvertreib in
sein Fleisch geschnitten, als um Schmerz zu verursachen. Sie sahen wie
silberne Grashalme aus, gleichmäßig angeordnet, wie Kerben auf einer
grotesken Punktekarte. Debbie fuhr mit dem Finger über den leicht
faltigen Hautklumpen, der die Stichwunde unter dem linken Rippenbogen
anzeigte.
    »Wir haben eine Abmachung«, sagte Archie. »Ihr Leben gegen die
Orte, wo ihre Opfer versteckt liegen. Sie hat ihren Teil der Abmachung
eingehalten. Ich war derjenige, der nicht damit klarkam. Sie redet mit
niemand anderem, Debbie. Denk an die zweihundert Menschen, die sie
getötet hat. Denk an ihre Familien.« Es war eine Rede, die er sich im
Lauf der zwei Jahre mit den wöchentlichen Besuchen bei Gretchen Lowell
oft selbst gehalten hatte. Es gehörte alles zu dem Versuch, sich
einzureden, dass er nur seine Arbeit tat. Er glaubte es selbst nicht
mehr. Er fragte sich, ob Debbie es glaubte.
    »Hundertneunundneunzig«, sagte Debbie. »Du warst Nummer
zweihundert, Archie. Und du lebst noch.«
    Sie führte ihre Hand zu der anderen Narbe hinauf, der Narbe,
die unter seiner linken Brustwarze begann, einen Bogen durch sein
Brusthaar machte und in Form eines Herzens an ihren Ausgangspunkt
zurückkehrte. Gretchen Lowell hatte in alle ihre Opfer ein Herz
geschnitten. Es war ihre Signatur. Doch ihre anderen Opfer waren
Leichen gewesen, die Herzen blutige Wunden, unkenntlich geworden durch
Verwesung und eine Unzahl Folterwunden. Als Leiter der Soko Beauty
Killer war Archie über den Toten gestanden, hatte auf die Fotos aus dem
Leichenschauhaus gestarrt, war zehn Jahre lang immer einen Schritt zu
spät dran gewesen. Bis er in die Falle ging, die Gretchen ihm gestellt
hatte.
    Sie hatte die Soko bereits sechs lange Wochen infiltriert
gehabt, ehe sie Archie unter Drogen setzte und sich ihm zu erkennen
gab. Sie hatten sie für eine Psychiaterin gehalten, die ihren kundigen
Rat anbot. Er fragte sich nun, ob er ihr so schnell vertraut hätte,
wenn sie nicht so schön gewesen wäre.
    Die Herznarbe war zart, die neue Haut wie ein feiner, blasser
Faden. Seine hübscheste Narbe. Er hatte sich monatelang nicht
überwinden können, sie anzusehen. Nun erschien sie ihm so sehr zu
seinem Körper gehörig wie das schlagende Herz darunter. Debbies Finger
streiften es, und ein Stromstoß lief durch Archies Nervensystem.
    Er fasste Debbies Handgelenk. »Nicht«, sagte er.
    Debbie drückte ihr Gesicht in seine Schulter. »Sie bringt dich
um«, sagte sie, und ihre Worte klangen leise und gedämpft durch den
Stoff. »Und sie bringt uns um.«
    Archies Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich liebe
dich«, sagte er. Er meinte es ehrlich. Er liebte sie und die Kinder
mehr als alles. Er liebte sie ganz und gar, doch es reichte nicht.
»Aber ich kann sie einfach nicht vergessen.«
    Debbie sah zu Archies Spiegelbild hinauf. »Ich werde sie nicht
gewinnen lassen.«
    Es brach ihm das Herz. Nicht weil sie Angst um ihn hatte,
sondern weil sie glaubte, ihn retten zu können. Was für ein kaputtes
Spiel er und Gretchen auch spielen mochten, es fand nur zwischen ihnen
beiden statt. Gretchen kümmerte sich nicht um Debbie, weil sie wusste,
dass Debbie keine Gefahr darstellte.
    »Das ist kein Wettkampf«, sagte er. Was er nicht sagte, war,
dass Gretchen bereits gewonnen hatte.
    Debbie sah ihn eine Minute lang an, ohne etwas zu sagen. Und
dann küsste sie ihn langsam und zärtlich auf die Wange. »Setzen wir uns
noch eine Weile ins Wohnzimmer«, sagte sie. »Fernsehen oder irgendwas.«
    Archie war dankbar für den Themenwechsel. »Wie Verheiratete?«,
sagte er.
    Debbie lächelte. »Genau.«
    So tun, als wäre alles normal. Das war etwas, das Archie gut
beherrschte. »Ich spiele den Ehemann«, sagte er. Er folgte ihr ins
Wohnzimmer, und genau in diesem Moment begannen die Pillen zu wirken,
und das Kodein rauschte durch seinen Kreislauf. Wie ein Kuss war es,
weich, warm und voller Verheißung.

_4_
    S usan saß nackt auf dem Boden vor dem hin
und her schwenkenden Ventilator, und jedes Mal, wenn der warme
Luftstrom sie traf, bekam sie eine Gänsehaut. Sie hatte kalt gebadet,
und ihr türkises Haar war nass, der Pony flach an den Kopf gekämmt. Sie
hatte die Haarfarbe erst vor zwei Tagen gewechselt, von Pink zu Türkis,
und ihre Kopfhaut brannte noch von dem Bleichmittel. Das und der
Umstand, dass es im Obergeschoss des engen viktorianischen Hauses
fünfunddreißig Grad warm war, ließen sie nicht
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