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Grappa 05 - Grappa faengt Feuer

Grappa 05 - Grappa faengt Feuer

Titel: Grappa 05 - Grappa faengt Feuer
Autoren: Gabriella Wollenhaupt
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hörten zu. Als er fertig war, applaudierten die Touristen. Der Sänger verbeugte sich, ging an uns vorbei, um sich seiner Gruppe anzuschließen.
    »Woher kommen Sie?«, fragte ich ihn.
    »Aus der Ukraine«, kam es deutsch zurück, »ich bin Sänger und habe 30 Jahre davon geträumt, im Theater von Epidaurus zu singen. Morgen komme ich wieder.«
    »Siehst du«, sagte ich zu Kondis, »es gibt noch andere Verrückte, die sich aus dem Griff der Geschichte nicht lösen können.«
    Ich hielt mein Gesicht der Sonne entgegen. Um meinen Kopf hatte ich nun ein lilafarbenes Baumwolltuch geschlungen.
    »Gib mir mal dein Fernglas«, bat ich Kondis. »Ich werde die Sitze nach unserem Freund Battos absuchen.«
    Ich ging in die Mitte des Kreises und durchstöberte die Reihen. Menschen aus allen Ländern saßen da, beschirmt durch Hüte und behängt mit Kameras und Ferngläsern. Manche von ihnen hatten einen Picknickkorb dabei, aßen und tranken. Mein Blick blieb an einem Mann hängen, der mit nacktem Oberkörper weit oben saß. Er trug eine Art Turban aus dem Hemd, das er sich um den Kopf gewickelt hatte. Ich identifizierte sein Schnurrbärtchen, bemerkte den abwesenden Blick und das Buch, das er in der Hand hielt. Seine Lippen schienen zu murmeln.
    Jemand stieß mich an, und das Bild wackelte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Langsam ging ich zu Kondis zurück, der mir von weitem zu lächelte. »Da oben sitzt er«, raunte ich ihm zu, »ich kann es noch gar nicht fassen. Dreh dich langsam nach rechts und schau ganz nach oben den Hang hinauf. Er ist halbnackt und trägt einen Turban.«
    Kondis gehorchte. Dann griff er nach dem Fernglas und vergewisserte sich. »Du hast recht«, stieß er hervor, »wie sollen wir Kontakt zu ihm aufnehmen?«
    Eine französische Reiseleiterin zerriss ein Blatt Papier in der Mitte der Orchestra, um die Akustik zu demonstrieren. Kondis sah mich an, offensichtlich von einem Geistesblitz erwischt.
    »Ich habs! Bevor wir nach oben geklettert sind, ist er verschwunden und unsere Puste weg. Wir nutzen die Fertigkeiten von Herrn Polyklet und flüstern Battos etwas ins Ohr. Sitzt er noch da oben?«
    Ich nickte. Kondis wartete, bis niemand mehr den markierten Punkt für sich beanspruchte und schlenderte langsam in die Mitte. Er drehte sich um, breitete die Arme aus und deklamierte:
    »Hör auf das Recht, nicht nähre vermessene Untat! Schlimm ist vermessene Untat beim Niederen, doch auch der Edle, leicht erträgt er sie nicht, sie drückt ihn als lastende Bürde, ist er in Schaden gestürzt. Der andere Weg geht sich besser, hin zum Rechten. Das Recht besiegt ja vermessenen Hochmut, wenn das Ende kommt. Auch ein Dummkopf wird sehend im Leide. Horkos, der Hüter des Eids, verfolgt jede Biegung des Rechts!«
    Kondis' Stimme war klar und deutlich. Ajax Unbill hatte zu Lesen aufgehört, als Kondis begonnen hatte. Regungslos saß er und starrte zu uns hinunter.
    »Wir kommen!« Das war Kondis. Ich sprang auf, und wir kletterten die Treppen zwischen den Sitzreihen hoch. Nach der Hälfte des Weges begann ich nach Luft zu schnappen, die Sonne glühte, kein Lüftchen ging.
    Endlich waren wir auf seiner Höhe. Ich ließ mich neben Ajax auf den Stein fallen.
    »Hallo!«, begrüßte er uns. »Schön, dass wir uns noch einmal sehen. Ich dachte schon, ich würde nie jemanden von früher wiedersehen.«
    Er stotterte nicht mehr. Seine unruhige Hektik und seine Unsicherheit waren verschwunden, er wirkte abgeklärt und in sich ruhend.
    »Wir haben Sie gesucht«, begann ich, »wie geht es Ihnen, Ajax?«
    »Bestens«, entgegnete er erstaunt, »ich fühle mich so wohl wie noch nie in meinem Leben.«
    »Was ist in der Nacht in Mykene geschehen?« Kondis' Stimme war sanft.
    »Ich habe das getan, was mir vorbestimmt war. Agamemnon musste sterben, weil er seine Frau getötet hat. ›Hör auf das Recht, nicht nähre vermessene Untat‹ … ich habe den Text erkannt, Herr Kondis. Hesiod. Ich kenne alle diese Texte. Viele von ihnen auswendig. Als Kind wurde ich bestraft, wenn ich nicht lernen wollte. Schon damals waren meine größten Wohltäter die nächtlichen Träume. Ich lebte die Geschichten, die ich lesen musste, war Prometheus, wenn ich Rachepläne gegen meinen Vater schmiedete, war Ödipus, wenn ich an meine Mutter dachte, war Hermes, wenn ich glücklich war und Musik hörte. Wer macht einem solchen Kind einen Vorwurf, wenn es sich in den Irrsinn flüchtet?«
    »Sie sprechen wie ein psychologischer Gutachter«, stellte ich fest,
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