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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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ersten Menschen, der »Warum?« fragte und nach Antworten suchte. Auf diesem Weg ist aus der Alchemie schließlich die moderne Chemie hervorgegangen – so wie die Astronomie als »exakte Wissenschaft« die Astrologie als durchaus verdienstvolle Vorläuferin hat. Auf Grundlage des Wissens, das ihnen zur Verfügung stand, befassten sich die Alchemisten mit den in der Natur vorkommenden Stoffen und ihren Eigenschaften. Dazu gehörte die Verwandlung dieser Stoffe – auch der einfachen Metalle, deren Transformation in ein Edelmetall man für möglich hielt. Selbst die über Jahrhunderte größte intellektuelle Kapazität, der griechische Philosoph Aristoteles, bestätigte mit seinen Erklärungen über die Beschaffenheit der Natur die Möglichkeit, Stoffe in andere zu verwandeln. Auf ihn konnte man sich berufen mit der Auffassung, alles in der Natur strebe nach Perfektion, denn das schloss auch Stoffe ein, die wir für tot befinden, darunter Metalle. Folglich schien auch die Herstellung von Gold als einen Versuch wert, weil es nach Wissen und Überzeugung der Zeit durchaus vorstellbar war. Wer also aus Eisen Gold machen wollte, suchte nach einem Stoff, der bei diesem Prozess ein bisschen nachhalf.
    Insgesamt war die Bandbreite alchemistischer Betätigung groß: Sie reichte von der Destillierung reiner Substanzen und dem Ausprobieren neuer chemischer Verfahren über die Herstellung und Erprobung von Arzneien bis zur Umwandlung profaner Stoffe in Edelmetalle. Auch die Zusammensetzung der Akteure wies eine große Bandbreite auf, von verschrobenen Außenseitern bis zu gewieften Propagandisten in eigener Sache, von armen Kirchenmäusen bis zu hoch bezahlten Experten an Fürstenhöfen. Manche strebten uneigennützig nach Erkenntnissen, andere witterten das große Geld, manche waren krude Esoteriker und Mystiker, andere messerscharfe Analytiker und nur einen Schritt vom abstrakt denkenden Wissenschaftler entfernt. Als durchaus praktisch ausgerichtete Disziplin war für die Alchemisten die Anwendung ihrer Erkenntnisse immer allgegenwärtig – sei es zur Herstellung von Arzneien oder von begehrten Edelmetallen und Edelsteinen. Alchemie ist aber auch eine theoretische und spekulative Profession. Und eine philosophische: Ernsthafte Alchemisten betrieben ihre durchaus anspruchsvollen Naturstudien auch mit dem Ziel der Vervollkommnung der eigenen Seele.
    Für die Menschen des Altertums, des Mittelalters und eines Teils der Neuzeit besaß Alchemie einen Sinn, auch wenn uns das aus heutiger Sicht als völlig abwegig erscheinen mag. Aber ihnen standen nun einmal weniger Gewissheiten zur Verfügung, und sie bekamen weniger Antworten auf dieselben Fragen nach den Mechanismen von Natur und Kosmos, die uns bis heute beschäftigen. Wir modernen, westlich geprägten Menschen dagegen wissen uns in einer in jeder Hinsicht aufgeklärten Zeit, in der nicht nur das Individuum alte Fesseln abgestreift hat und das Leben bequem und vergnüglich wurde, sondern fleißige Wissenschaftler die Welt und was sie zusammenhält ganz überwiegend enträtselt haben. Wenn wir einmal davon absehen, dass Enträtselung auch Entzauberung bedeutet und dass die modernen Errungenschaften dem menschlichen Seelenleben nicht nur Gutes tun: Wir verlassen uns doch recht bequem auf die Erkenntnisse anderer, auch wenn wir uns ehrlicherweise eingestehen müssten, dass wir Quantenlehre, Relativitätstheorie und Elektronenphysik ebenso wenig verstehen wie die Transmutationslehre der Alchemisten. Letztere hat nur eben ausgedient. Zweifellos gab es allerlei zweifelhafte Unternehmungen in der Alchemie, aber die stellen nur einen Teil der Geschichte dieser protowissenschaftlichen Disziplin dar – ganz abgesehen davon, dass abwegige Versuche und absonderliche Verfahren in der Geschichte der Menschheit mitunter zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt haben.
    Wer noch im 16. oder 17. Jahrhundert, kurz vor und während der sogenannten wissenschaftlichen Revolution, sich als Alchemist betätigte, konnte sich zu den eifrigsten Naturforschern zählen. Und so wie die Naturwissenschaft Chemie aus der Alchemie hervorging, unternahmen einige der herausragenden Figuren der wissenschaftlichen Revolution alchemistische Experimente, darunter der Urvater der modernen Physik Isaac Newton und einer der Mitbegründer der modernen Chemie, Robert Boyle. Ein weiterer Alchemist, dem durchaus ein Platz im Pantheon der Wissenschaften zusteht, gehört ebenfalls zu den Begründern der modernen Chemie: der
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