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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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nach.
    »Erlebnisse in der Vergangenheit können die Interpretation des Beweismaterials durch einen Zeugen beeinflussen.«
    »Von welchen Erlebnissen sprechen Sie?«
    »Wenn Sie gestatten, dass ich den Sachverhalt darlege, wird das sehr bald offensichtlich werden.«
    Der Richter sah Whaley streng an. »Ich gestatte vorläufig eine Befragung in dieser Richtung. Aber nur vorläufig.«
    Mit finsterer Miene nahm Aguilar wieder Platz.
    Whaley wandte seine Aufmerksamkeit wieder Maura zu. »Dr. Isles, erinnern Sie sich vielleicht noch, an welchem Tag Sie den Verstorbenen untersuchten?«
    Maura antwortete nicht sofort, aus der Fassung gebracht durch den plötzlichen Schwenk zurück zum Thema der Obduktion. Dabei war ihr nicht entgangen, dass Whaley es vermieden hatte, den Namen des Opfers auszusprechen.
    »Sie sprechen von Mr. Dixon?«, erwiderte sie, und sie sah die Verärgerung in seinen Augen.
    »Ja.«
    »Das Datum der Obduktion war der erste November des vergangenen Jahres.«
    »Und haben Sie an diesem Tag die Todesursache ermittelt?«
    »Ja. Wie ich bereits sagte, starb er an massiven inneren Blutungen infolge eines Milzrisses.«
    »Und haben Sie am gleichen Tag auch die Todesart festgestellt?«
    Sie zögerte. »Nein. Jedenfalls nicht endgültig …«
    »Warum nicht?«
    Sie schöpfte Atem, wohl wissend, dass alle Augen im Saal auf ihr ruhten. »Ich wollte die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung abwarten. Um festzustellen, ob Mr. Dixon tatsächlich unter dem Einfluss von Kokain oder anderen Drogen stand. Ich wollte nicht vorschnell urteilen.«
    »Was ja wohl das Mindeste ist, angesichts der Tatsache, dass Ihr Urteil die Karriere, wenn nicht gar das Leben zweier engagierter und loyaler Gesetzeshüter zerstören könnte.«
    »Ich befasse mich ausschließlich mit den Tatsachen, Mr. Whaley, wo immer sie auch hinführen mögen.«
    Die Antwort gefiel ihm nicht; sie erkannte es am Zucken seiner Kiefermuskeln. Aller Anschein von Freundlichkeit war wie weggefegt – aus dem Plausch war ein erbitterter Kampf geworden.
    »Sie haben die Obduktion also am ersten November durchgeführt?«, sagte er.
    »Ja.«
    »Was ist danach passiert?«
    »Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«
    »Haben Sie sich das Wochenende freigenommen? Haben Sie in der Woche darauf noch weitere Obduktionen vorgenommen?«
    Sie starrte ihn an, und ein bohrendes Angstgefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Sie wusste nicht, worauf er mit der Frage hinauswollte, doch die Richtung, die das Ganze nahm, gefiel ihr nicht. »Ich habe an einem rechtsmedizinischen Kongress teilgenommen«, sagte sie.
    »In Wyoming, wenn ich mich nicht irre.«
    »Ja.«
    »Wo Sie ein einigermaßen traumatisches Erlebnis hatten. Sie wurden von einem korrupten Polizeibeamten angegriffen.«
    Sofort sprang Aguilar auf. »Einspruch! Gehört nicht zur Sache!«
    »Einspruch abgewiesen«, sagte der Richter.
    Whaley lächelte. Jetzt war der Weg frei für seine Fragen, vor denen Maura sich so fürchtete. »Ist das korrekt, Dr. Isles? Wurden Sie von einem Polizeibeamten angegriffen?«
    »Ja«, flüsterte sie.
    »Entschuldigen Sie, das habe ich nicht verstanden.«
    »Ja«, wiederholte sie lauter.
    »Und wie haben Sie den Angriff überlebt?«
    Es war totenstill im Saal; alles wartete gespannt auf ihre Geschichte. Eine Geschichte, die sie am liebsten ganz aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte, denn sie verfolgte sie immer noch in ihren Albträumen. Sie erinnerte sich an Wyoming, an diese einsame Bergkuppe. Sie erinnerte sich an das Geräusch, mit dem die Autotür des Deputys ins Schloss gefallen war und sie eingeschlossen hatte, dort auf dem Rücksitz hinter dem Sicherheitsgitter. Sie erinnerte sich an ihre Panik, als sie mit den Fäusten gegen die Scheibe getrommelt hatte, in dem vergeblichen Versuch, einem Mann zu entkommen, von dem sie wusste, dass er sie umbringen wollte.
    »Dr. Isles, wie haben Sie überlebt? Wer ist Ihnen zu Hilfe gekommen?«
    Sie schluckte. »Ein Junge.«
    »Julian Perkins, sechzehn Jahre alt, wenn ich richtig informiert bin. Ein junger Mann, der diesen Polizeibeamten mit einem Schuss tödlich verletzte.«
    »Er hatte keine Wahl!«
    Whaley legte den Kopf schief. »Sie verteidigen einen Jungen, der einen Polizisten getötet hat?«
    »Einen kriminellen Polizisten!«
    »Und dann kehrten Sie nach Boston zurück. Und befanden im Fall von Mr. Dixons Tod auf ein Tötungsdelikt.«
    »Weil es eines war.«
    »Oder war es lediglich ein tragischer Unfall? Die unvermeidliche
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