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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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brauchst, weist du keinen zahlenden Gast ab, auch keine nervigen kleinen Jungs. Billy hatte einen Abschluss von der Schauspielschule und keinerlei Aussichten auf einen Job, und heute Abend konnte er die hübsche Summe von hundertfünfundneunzig Dollar einstreichen, plus Trinkgeld. Nicht schlecht für zwei Stunden Geschichtenerzählen – allerdings durfte man sich nicht zu schade sein, sich mit einem Mandarin-Gewand aus Satin und einem falschen Zopf als Bilderbuchchinese zu verkleiden.
    Billy räusperte sich und hob die Arme – während der sechs Semester Schauspielunterricht hatte er gelernt, wie man die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnt. »Wir schreiben das Jahr 1907! Es ist der zweite August, ein warmer Freitagabend.« Seine volltönende, unheilschwangere Stimme erhob sich über den störenden Verkehrslärm. Wie der Sensenmann persönlich, der sein nächstes Opfer erspäht hat, deutete er über die Straße. »Dort, an einem Platz, der als Oxford Place bekannt ist, schlägt das Herz des Bostoner Chinesenviertels. Kommen Sie nun mit mir, und lassen Sie uns gemeinsam eintauchen in eine Zeit, da es in diesen Straßen von Einwanderern wimmelte. Da die schwüle Nachtluft erfüllt war vom Geruch verschwitzter Körper und dem Duft fremdländischer Gewürze. Versetzen wir uns zurück in eine Nacht, als Mord in der Luft lag!« Mit einer dramatischen Geste bedeutete er der Gruppe, ihm zum Oxford Place zu folgen, wo sich alle dichter um ihn drängten, um nur ja nichts zu verpassen. Er blickte in ihre gespannten Gesichter und dachte: Jetzt ist die Zeit, sie zu verzaubern, sie in meinen Bann zu ziehen, wie es nur ein guter Schauspieler vermag. Er breitete die Arme aus, und die Ärmel seines Mandarin-Gewands flatterten wie seidene Schwingen, als er Luft holte, um zu beginnen.
    »Maaaa- miii !«, heulte einer der Rotzbengel. »Er tritt mich!«
    »Hör auf damit, Michael!«, zischte die Mutter seinen Bruder an. »Aber auf der Stelle!«
    »Ich hab doch gar nichts gemacht !«
    »Du ärgerst deinen Bruder.«
    »Aber bloß, weil er mich ärgert.«
    »Wollt ihr vielleicht beide zurück ins Hotel? Wollt ihr das?«
    Lieber Gott, lass sie bitte in ihr Hotel zurückgehen, dachte Billy. Doch die beiden Jungen standen nur da mit verschränkten Armen, gifteten sich mit Blicken an und dachten nicht daran, sich von Billys Vortrag in Bann ziehen zu lassen.
    »Wie ich bereits sagte …«, fuhr Billy fort. Doch die Unterbrechung hatte ihn aus dem Konzept gebracht, und er konnte fast das Pffft! hören, mit dem die dramatische Spannung entwich wie die Luft aus einem angestochenen Reifen. Er biss die Zähne zusammen und fuhr fort.
    »Es war eine schwüle Nacht im August. Auf diesem Platz saß eine Gruppe von Chinesen beisammen, die sich nach einem langen Arbeitstag in ihren Wäschereien und Lebensmittelläden ausruhten.« Es waren Klischees, die er hier zum Besten gab, aber sosehr es ihm zuwider war, er musste sie einsetzen, um eine Zeit heraufzubeschwören, in der die Presse regelmäßig über »verschlagene, finstere Orientalen« berichtet hatte und in der selbst das renommierte Time Magazine sich ungeniert ausgelassen hatte über »arglistig grinsende Gesichter, so gelb wie das Papier von Telegrammformularen«. Eine Zeit, in der Billy Foo als Amerikaner chinesischer Abstammung ausschließlich Arbeit als Wäscher, Koch oder Hilfsarbeiter hätte finden können.
    »Hier auf diesem Platz«, fuhr Billy fort, »kommt es an diesem Abend zu einer Schlacht. Einer Schlacht zwischen zwei rivalisierenden Chinesenclans, den On Leongs und den Hip Sings. Einer Schlacht, die diesen Platz in ein Meer von Blut verwandeln sollte …
    Irgendjemand zündet einen Feuerwerkskörper. Plötzlich hallen Schüsse durch die Nacht! Dutzende von Chinesen fliehen in Panik! Doch manche laufen nicht schnell genug, und als die Gewehre verstummen, liegen fünf Männer tot oder sterbend auf dem Schauplatz. Sie sind nur die jüngsten Opfer der blutigen und berüchtigten Tong-Kriege …«
    »Mami, können wir jetzt gehen?«
    »Psst! Du sollst dem Mann zuhören.«
    »Aber der ist so laaangweilig. «
    Billy hielt inne. Es zuckte ihm in den Fingern, den kleinen Rotzbengel zu würgen, doch er warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu. Der Junge zuckte mit den Schultern, nicht im Geringsten beeindruckt.
    »In nebligen Nächten wie dieser«, stieß Billy mürrisch hervor, »kann man bisweilen in der Ferne das Knallen jener Feuerwerkskörper hören. Man kann schemenhafte Gestalten sehen,
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