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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
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Scharlach, schloss mich in mein Zimmer ein und betrank mich mit Wodka, langsam, aber systematisch, bis vier Uhr morgens. Dann rief ich Cassies Handy an.
    Beim dritten Klingeln sagte sie verschlafen: »Maddox.«
    »Cassie«, sagte ich. »Cassie, du willst doch nicht ernsthaft diesen Langweiler heiraten. Oder?«
    Ich hörte, wie sie Luft holte, um etwas zu sagen. Nach einer Weile atmete sie wieder aus.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Alles. Es tut mir so schrecklich leid. Ich liebe dich, Cass. Bitte.«
    Ich wartete wieder. Nach einer langen Zeit hörte ich ein Klacken. Dann sagte Sam irgendwo im Hintergrund: »Wer war das?«
    »Falsch verbunden«, sagte Cassie, jetzt weiter weg. »Irgendein Betrunkener.«
    »Wieso hast du denn dann nicht gleich wieder aufgelegt?« In seiner Stimme schwang Belustigung. Bettwäsche raschelte.
    »Er hat gesagt, er liebt mich, da wollte ich natürlich wissen, wer er ist«, sagte Cassie. »Aber offenbar war er auf der Suche nach Britney.«
    »Sind wir das nicht alle?«, sagte Sam. Dann: »Aua!«, und Cassie kicherte. »Du hast mir in die Nase gebissen!«
    »Selber schuld«, sagte Cassie. Noch mehr leises Lachen, ein Rascheln, ein Kuss, ein langer zufriedener Seufzer. Sam sagte sanft und glücklich: »Baby.« Dann nichts mehr, nur ihr Atem, der langsam in einen synchronen Rhythmus fiel, als sie wieder einschliefen.
    Ich blieb sehr lang reglos sitzen, sah zu, wie sich der Himmel draußen vor meinem Fenster erhellte, und begriff plötzlich, dass mein Name gar nicht im Display von Cassies Handy aufgetaucht war. Ich konnte spüren, wie der Wodka sich abbaute und die Kopfschmerzen einsetzten. Sam schnarchte, ganz leise. Ich weiß bis heute nicht, ob Cassie dachte, sie hätte aufgelegt, oder ob sie mir wehtun wollte oder ob sie mir ein letztes Geschenk machen wollte, eine letzte Nacht, in der ich sie atmen hören durfte.

    Die Schnellstraße wurde natürlich im ursprünglich geplanten Verlauf gebaut. Die Bürgerinitiative sorgte für einen beeindruckend langen Baustopp – einstweilige Verfügungen, Verfassungsklagen, ich glaube, sie wären bis zum Europäischen Gerichtshof gegangen –, und eine Gruppe mürrischer Aktivisten (ich würde wetten, Mark war auch dabei) errichtete sogar auf dem Gelände ein Protestlager, um die Bulldozer aufzuhalten, was die Arbeiten um weitere Wochen verzögerte, bis die Regierung einen Gerichtsbeschluss gegen sie erwirkte. Sie hatten nie den Hauch einer Chance. Ich wünschte, ich hätte Jonathan Devlin fragen können, ob er sich von dieser Aktion wirklich etwas versprochen hatte oder ob ihm klar gewesen war, dass sie nichts bringen würde und es dennoch versuchen musste. Ich beneidete ihn, so oder so.
    Ich fuhr hin, an dem Tag, als ich in der Zeitung las, dass die Bauarbeiten begonnen hatten. Ich weiß nicht genau, warum ich hinfuhr. Es war kein dramatischer letzter Versuch, mit allem abzuschließen oder so, ich hatte einfach nur den verspäteten Impuls, mir die Ausgrabung nochmal anzuschauen.
    Es war ein heilloses Chaos. Ich hatte damit gerechnet, aber nicht in dem Ausmaß. Noch ehe ich oben auf dem Hügel ankam, hörte ich schon die ohrenbetäubenden Baufahrzeuge. Das ganze Gelände war nicht mehr wiederzuerkennen, Männer in neonfarbener Schutzmontur schwärmten wie die Ameisen herum und riefen unverständliche Kommandos über den Krach hinweg, wuchtige verdreckte Bulldozer warfen riesige Erdbrocken beiseite und tasteten mit obszöner Behutsamkeit an den ausgegrabenen Mauerresten herum.
    Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab und stieg aus. Auf dem Parkplatz (er war noch unversehrt; der Kastanienbaum warf wieder seine stacheligen Früchte ab) hatte sich eine traurige Schar Protestler versammelt, die handgeschriebene Plakate schwenkten – RETTET UNSER ERBE, GESCHICHTE IST NICHT ZU VERKAUFEN –, für den Fall, dass die Medien sich blicken ließen. Die aufgerissene Erde schien sich endlos weit zu erstrecken, das Gelände kam mir viel größer vor, als ich die Ausgrabung in Erinnerung hatte, und ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, weshalb: Der letzte Streifen Wald war fast verschwunden. Weißliche, gesplitterte Baumstämme, freiliegende Wurzeln, die sich zum grauen Himmel reckten. Schnarrende Kettensägen an den paar Bäumen, die noch standen.
    Die Erinnerung traf mich in den Solarplexus, wie wir die Burgmauer hochkletterten, Chipspackungen unter meinem T-Shirt und der irgendwo tief unter uns plätschernde Fluss; Peters Turnschuh, der direkt über mir
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