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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
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schon bald in Mietrückstand geraten, sodass ihr Vermieter sie auf die Straße setzte. Ich habe keine Ahnung, wie Sam diese Frau gefunden hatte. Ich hätte gedacht, ein so romanhaft mitleiderregendes Schicksal gehörte ins viktorianische London. Vielleicht hatte er gezielt danach gesucht, zuzutrauen wär’s ihm. Er selbst war in eine Mietwohnung gezogen, in Blanchardstown, glaube ich, oder einer ähnlichen Vorstadthölle. Die gängigsten Theorien lauteten, er wolle bei der Polizei aufhören, um Priester zu werden, und er sei todkrank.
    Sophie und ich gingen ein paarmal zusammen aus. Immerhin war ich ihr etliche Dinner und Drinks schuldig. Ich fand, es lief mit uns ganz gut, und sie stellte keine schwierigen Fragen, was ich als gutes Zeichen wertete. Doch nach einigen Verabredungen und ehe die Beziehung so weit fortgeschritten war, dass sie den Namen verdient gehabt hätte, gab sie mir den Laufpass. Sie erklärte mir ganz sachlich, sie sei alt genug, um den Unterschied zwischen faszinierend und kaputt zu erkennen. »Du solltest es mit jüngeren Frauen versuchen«, riet sie mir. »Die können das noch nicht so gut unterscheiden.«

    Irgendwann während der endlosen Monate in meiner Wohnung (nächtliche Partien Solitaire-Poker, fast tödliche Mengen Radiohead und Leonard Cohen) kam mir zwangsläufig wieder Knocknaree in den Sinn. Ich hatte mir natürlich geschworen, nie wieder auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, aber wir Menschen sind nun mal neugierig, solange das Wissen keinen zu hohen Preis kostet.
    Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als mir klar wurde, dass nichts mehr da war. Anscheinend war alles vor meinem ersten Tag im Internat mit chirurgischer Präzision aus meinem Kopf herausgeschnitten worden, und diesmal für immer. Peter, Jamie, die Biker und Sandra, der Wald, jeder Erinnerungsfetzen, den ich im Laufe der Ermittlungen mühsam zurückgeholt hatte: weg. Ich wusste noch, wie es einst gewesen war, mich an diese Szenen zu erinnern, aber jetzt, da sie die unnahbare, indirekte Aura alter Filme hatten, die ich mal gesehen hatte, oder von Geschichten, die mir erzählt worden waren, sah ich sie wie aus weiter Ferne – drei braungebrannte Kinder in zerschlissenen Shorts, die Willy Little aus einer Baumkrone auf den Kopf spuckten und sich kichernd verkrümelten – und ich wusste mit nüchterner Gewissheit, dass diese entwurzelten Bilder mit der Zeit verkümmern und wegwehen würden. Sie schienen mir nicht mehr zu gehören, und ich konnte das dunkle, unversöhnliche Gefühl nicht abschütteln, dass ich mein Anrecht auf sie für alle Zeit verwirkt hatte.
    Nur ein Bild blieb mir. Ein Sommernachmittag, Peter und ich ausgestreckt auf dem Gras bei ihm zu Hause im Vorgarten. Wir hatten halbherzig versucht, uns nach den Anleitungen in einem Bastelbuch ein Periskop zu bauen, aber wir brauchten dafür ein Papprohr aus einer Küchenpapierrolle, und wir konnten unsere Mütter nicht darum bitten, weil wir nicht mit ihnen sprachen. Wir hatten es mit aufgerolltem Zeitungspapier versucht, aber das knickte immer ein, sodass wir durch das Periskop nur die Sportseite sehen konnten, verkehrt herum.
    Wir waren beide richtig mieser Stimmung. Es war die erste Woche in den Sommerferien, und die Sonne schien, es hätte also ein toller Tag sein müssen, wir hätten das Baumhaus reparieren oder im eiskalten Fluss schwimmen können, aber auf dem Nachhauseweg am letzten Schultag hatte Jamie mit hängendem Kopf gesagt: »In drei Monaten muss ich aufs Internat.«
    »Sei still«, hatte Peter gesagt und sie leicht angeschubst. »Musst du nicht. Sie wird nachgeben.« Aber die Ferien hatten für uns ihren Glanz verloren, als hätte sich eine riesige schwarze Rauchwolke über alles gelegt, wohin wir auch blickten. Wir konnten nicht reingehen, weil unsere Eltern böse auf uns waren, weil wir nicht mit ihnen redeten, und wir konnten nicht in den Wald oder irgendetwas Sinnvolles tun, weil uns alles, was uns einfiel, blöd vorkam, und wir konnten nicht mal zu Jamie und sie aus dem Haus locken, weil sie bloß den Kopf schütteln und ›Wozu denn?‹ sagen und alles noch schlimmer machen würde. Also lagen wir im Garten, gelangweilt und unruhig und sauer aufeinander und auf das Periskop, weil es nicht funktionierte, und auf die ganze Welt, weil sie bescheuert war. Peter riss ruhelos Grashalme aus, biss die Enden ab und spuckte sie in die Luft. Ich lag auf dem Bauch, beobachtete mit einem Auge die Ameisen, die hin und her wuselten, meine
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