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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
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angerufen. Ich hätte Simone die Nummer von Sam geben und auflegen sollen, doch stattdessen ließ ich alles stehen und liegen und fuhr raus nach Stillorgan.
    Es war elf Uhr morgens, und Simone war allein. Sonnenlicht durchflutete das Studio, und die Fotos von Katy waren vom Schwarzen Brett abgenommen worden, doch ein Atemzug von diesem besonderen Geruch – Harz, frischer Schweiß, Bohnerwachs –, und alles war wieder da: die Rufe der Skateboardfahrer unten auf der dunklen Straße, schnelle gedämpfte Schritte und Geplapper auf dem Gang, Cassies Stimme neben mir, die schrille Dringlichkeit, die wir mit in den Raum gebracht hatten.
    Das Poster lag mit der Vorderseite nach unten auf dem Boden. Hinten waren verstaubte Blätter Papier so aufgeklebt worden, dass sie eine provisorische Tasche bildeten, und obendrauf lag das Tagebuch. Es war ein einfaches Schulheft, linierte Seiten und ein schmutzigorangefarbener Umschlag. »Paula, die es gefunden hat, ist schon bei ihrer nächsten Putzstelle«, sagte Simone, »aber ich habe ihre Telefonnummer, wenn Sie sie möchten.«
    Ich hob das Tagebuch auf. »Haben Sie es gelesen?«, fragte ich.
    Simone nickte. »Ein wenig, genug.« Sie trug eine enge schwarze Hose und einen weichen schwarzen Pullover, und irgendwie sah sie darin noch exotischer aus als damals in Rock und Trikot. In ihren außergewöhnlichen Augen lag der gleiche reglose Ausdruck wie bei unserem Gespräch über Katy.
    Ich setzte mich auf einen der Plastikstühle. »Katy Devlin PRIVAT NICHT ÖFFNEN DAMIT BIST DU GEMEINT!!!« stand auf dem Umschlag, aber ich schlug es dennoch auf. Es war zu drei Vierteln voll. Die Handschrift war rund und gleichmäßig, mit ersten Anzeichen von Individualität: ausgeprägte Schnörkel bei den Js und den Gs, ein großes, geschwungenes S. Simone saß mir gegenüber und schaute zu, die Hände im Schoß übereinandergelegt, während ich las.
    Das Tagebuch deckte fast acht Monate ab. Die Einträge waren zu Anfang regelmäßig, etwa eine halbe Seite am Tag, doch nach ein paar Monaten wurden sie sporadischer, mal zwei pro Woche, mal einer. Sie handelten überwiegend vom Ballett. »Simone sagt meine Arabesque ist besser geworden aber ich muss noch dran denken dass sie aus dem ganzen Körper kommt nicht bloß dem Bein besonders das linke muss eine gerade Linie sein.« »Wir lernen ein neues Stück für den Auftritt Ende des Jahres mit Musik aus Giselle + ich mache Fouettés. Simone sagt denk dran so sagt Giselle ihrem Freund wie sehr er ihr das Herz gebrochen hat + und wie sehr sie ihn vermissen wird das ist ihre einzige Chance + das muss in jeder Bewegung stecken. Ein Teil davon geht so«, und dann ein paar Zeilen angestrengter, rätselhafter Notenschrift, wie eine verschlüsselte Partitur. An dem Tag, als sie die Zusage von der Royal Ballet School erhalten hatte, stand auf der mit sternförmigen Aufklebern geschmückten Seite in übergroßen fetten Druckbuchstaben«ICH BIN ANGENOMMEN ICH BIN ANGENOMMEN ICH BIN WIRKLICH ANGENOMMEN!!!!!«
    In einigen Passagen erzählte sie, was sie so mit ihren Freundinnen machte: »Wir haben bei Christina geschlafen ihre Mum hat uns eine komische Pizza mit Oliven gegeben + wir haben Wahrheit oder Pflicht gespielt Beth ist in Matthew verknallt. Ich bin in keinen verknallt Tänzerinnen heiraten meistens erst nach ihrer Karriere also vielleicht wenn ich fünfunddreißig oder vierzig bin. Wir haben uns geschminkt Marianne sah richtig hübsch aus aber Christina hat sich zu dick Lidschatten drauf getan sie sah aus wie ihre Mum!!« Als sie das erste Mal mit ihren Freundinnen allein in die Stadt durfte: »Wir sind mit dem Bus gefahren + shoppen gegangen bei Miss Selfrige Marianne + ich haben das gleiche Top gekauft aber ihrs ist pink mit lila Schrift meins ist hellblau mit rot. Jess konnte nicht mit deshalb hab ich ihr einen Blumenhaarclip gekauft. Dann waren wir bei MacDonald’s Christina hat den Finger in meinen Ketchup gesteckt + ich hab was auf ihr Eis getan wir haben uns totgelacht bis der Wachmann meinte er schickt uns raus wenn wir nicht aufhören. Beth hat ihn gefragt möchten Sie Ketchupeis?«
    Sie probierte Louises Spitzenschuhe an, mochte keinen Kohl und wurde aus der Mathestunde geworfen, als sie Beth, die ein paar Reihen hinter ihr saß, eine SMS schrieb. Ein glückliches Kind, würde man sagen, albern und zielstrebig und ohne Zeit für Zeichensetzung; ein ganz normales Mädchen, bis auf das Tanzen, und durchaus zufrieden. Doch zwischendurch: Entsetzen
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