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Grabesdunkel

Grabesdunkel

Titel: Grabesdunkel
Autoren: Alexandra Beverfjord
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Zimmer in der ersten Etage waren leer. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. »Wir suchen nach Iben. Mama und Papa.« Die Schrift war so seltsam, so dünn und krakelig. Joakim kletterte auf das Sofa und kroch unter eine große Wolldecke.
    Die Zeit verging unendlich langsam, als läge eine kleine Ewigkeit zwischen jedem Ticken der großen Wanduhr. Er saß reglos da, versuchte, die Sekunden zu zählen, um nicht daran zu denken, was auf dem Zettel gestanden hatte.
    Erst um zehn Uhr morgens hörte er das Auto zurückkommen. Er hörte auch das Weinen seiner Mutter, als der Motor ausgeschaltet wurde. Anschließend rief der Vater Familie und Freunde an. Joakim hörte die Furcht in seiner Stimme. »Wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Wir haben die ganze Nacht gesucht. Wir haben all ihre Freunde angerufen. Wir haben …«
    In den nächsten Stunden füllte sich das Haus. Auch die Polizei kam. Seine Mutter saß im Wohnzimmer. Wo Joakim auch war, überallhin verfolgte ihn ihr Weinen. Ab und zu wurde es lauter, um dann wieder zu einem leisen Wimmern abzufallen. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie war immer die Starke gewesen. Er spürte die Wut in sich wachsen. Er hatte das Gefühl, als würde seine Mutter Iben im Stich lassen, als hätte sie bereits aufgegeben. Eine Polizistin saß bei seiner Mutter und redete beruhigend auf sie ein. »So etwas kommt immer wieder vor. Sie werden sehen, wir finden Ihre Tochter.« Joakim hätte seine Mutter am liebsten angeschrien: »Hörst du nicht, was die Polizei sagt? Wir finden Iben. Hör auf zu weinen.« Doch seine Mutter starrte nur mit nassen Augen aus dem Fenster. Ihr Blick schien nach innen gerichtet, als hätte sie dichtgemacht.
    Erst am Nachmittag wurde die Suche systematisch organisiert. Joakim begleitete den Vater in den Wald hinter dem Haus. Er kannte den Wald gut, hier hatte er seine ganze Kindheit lang gespielt. Doch an diesem Tag sah alles anders aus. Die Bäume waren düster und fremd.
    Sein Vater hatte den Blick auf den Farnteppich unter ihren Füßen gerichtet. Er machte den Eindruck, als wüsste er, wonach er suchte, sein Blick jagte kreuz und quer über den Boden. Jedes Mal, wenn etwas auf dem dunklen Waldboden aufleuchtete, eine nackte Kiefernwurzel oder eine vergessene weiße Plastiktüte, schien ein gewaltiger Ruck durch seinen Körper zu gehen. Und Joakim hörte, wie sein Vater erleichtert aufatmete, wenn er feststellte, dass das, was er gesehen hatte, kein bloßer Fuß oder Arm war. Das zu erleben war schwer auszuhalten.
    Langsam kroch die Dunkelheit heran, und die Tränen ließen alles verschwimmen. Sie waren gar nicht lange unterwegs, als Joakim es spürte. Die anderen, die nach Iben suchten, waren zu weit entfernt. Nur Joakim und sein Vater suchten in diesem Stück des Waldes. Aber hier war jemand, der sie anstarrte. Joakim kannte das hässliche Prickeln im Rücken, so kalt, dass er am ganzen Körper zu zittern begann. Er sah seinen Vater an, fragte ihn, ob er auch das Gefühl hatte, dass ihnen jemand folgte. Doch sein Vater schüttelte nur den Kopf und blickte weiter zu Boden. Joakim drückte die starke Hand seines Vaters, während er nach oben schaute. Und da sah er sie. Die Augen, zwei weit offene Augen, die sie anstarrten. Sein dünner Körper erstarrte.
    Der Mund seines Vaters öffnete sich, doch kein Schrei kam über seine Lippen. Stattdessen stieß er seltsame Laute aus. Gurgellaute, als würde er ersticken. Sein Vater schwankte, schien zu fallen. Joakims Blick wanderte zurück zu dem Unaussprechlichen, das er gesehen hatte. Ibens lebloser Körper hing an einem Tau an einem großen Baum, an demselben Baum, auf den sie geklettert waren, als sie noch klein waren. Die Beine schaukelten leicht hin und her, das Haar verdeckte teilweise das Gesicht, doch die Augen waren zu sehen, weit aufgerissen und starrend.
    Seine Mutter wurde für ein Jahr krankgeschrieben. Nervöser Zusammenbruch, hieß es. Es gab keine Diagnose, die einfach nur Trauer hieß. Doch Joakim wusste, dass alles leichter gewesen wäre, wenn es ein Unfall gewesen wäre, eine Krankheit oder etwas ganz anderes. Er wusste es einfach.
    Menschen, die sich das Leben nahmen, hinterließen ein großes, schwarzes Loch aus Scham, Fragen und Verzweiflung – und was am schlimmsten war: aus Schuld. Jedes Mal, wenn Joakim an seine Schwester
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