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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald
Autoren: H Coben
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York.
    »Was?«
    »Auf der anderen Seite zu stehen. Normalerweise sind Sie derjenige, der die Fragen stellt, nicht der, der sie beantwortet. Muss ein seltsames Gefühl sein.«

    Er lächelte mir durch den Rückspiegel zu.
    »Hey, York«, sagte ich.
    »Was ist?«
    »Haben Sie ein Plakat oder ein Programm dabei?«, fragte ich.
    »Ein was?«
    »Ein Programm«, sagte ich. »Damit ich mir Ihre alten Kritiken ansehen kann, wissen Sie – bevor Sie die begehrte Rolle als guter Bulle gekriegt haben.«
    York gluckste. »Ich hab ja nur gesagt, dass es seltsam sein muss, weiter nichts. Ich meine, sind Sie vorher schon mal von der Polizei vernommen worden?«
    Das war eine Fangfrage. Das mussten sie wissen. Ich hatte als Achtzehnjähriger in einem Ferienlager gejobbt. Vier Jugendliche  – Gil Perez und seine Freundin Margot Green, Doug Billingham und seine Freundin Camille Copeland (also meine Schwester) – hatten sich am letzten Abend vor der Abfahrt in den Wald geschlichen.
    Sie wurden nie wieder lebend gesehen.
    Nur zwei der Leichen wurden gefunden. Die siebzehnjährige Margot Green lag mit durchschnittener Kehle nicht einmal hundert Meter vom Camp entfernt. Doug Billingham, auch siebzehn Jahre alt, fand man knapp einen Kilometer vom Camp entfernt. Er hatte mehrere Stichwunden, die Todesursache war aber auch bei ihm eine durchschnittene Kehle. Die Leichen der beiden anderen – von Gil Perez und meiner Schwester Camille  – blieben verschwunden.
    Der Fall hatte Schlagzeilen gemacht. Wayne Steubens, ein jugendlicher Betreuer aus gutem Hause, wurde zwei Jahre später verhaftet – allerdings erst nach dem dritten Sommer des Schreckens  –, und da hatte er noch mindestens vier weitere Jugendliche ermordet. Man hat ihn den Sommer-Schlitzer genannt, was ein sehr naheliegender Spitzname war. Waynes nächste beiden
Opfer wurden in der Nähe eines Pfadfinder-Camps bei Muncie in Indiana gefunden, ein weiteres Opfer bei einem dieser Allround-Sommercamps in Vienna, Virginia. Sein letztes Mordopfer hatte er bei einem Sportcamp in den Poconos in Pennsylvania erwischt. Den meisten hatte er die Kehle durchgeschnitten. Er hatte sie alle im Wald begraben, manche noch bevor sie tot waren. Ja, er hatte sie lebendig begraben. Alle Leichen wurden erst nach längerer Suche entdeckt. Bei dem Jungen in Pocono hatte es zum Beispiel ein halbes Jahr gedauert, bis seine Leiche gefunden wurde. Die meisten Fachleute glaubten, dass auch die Vermissten noch irgendwo da draußen im Wald vergraben lagen.
    Wie meine Schwester.
    Wayne hat nie ein Geständnis abgelegt, und obwohl er seit achtzehn Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt, beharrt er darauf, mit den ersten vier Morden nichts zu tun zu haben.
    Ich glaube ihm nicht. Die Tatsache, dass irgendwo da draußen noch mindestens zwei Leichen lagen, hatte Spekulationen und Geheimniskrämerei Tür und Tor geöffnet. Dadurch war Wayne stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Ich glaube, das gefällt ihm. Aber die Ungewissheit – dieser kleine Hoffnungsschimmer  – brennt immer noch in mir wie eine offene Wunde.
    Ich habe meine Schwester geliebt. Das haben wir alle. Die meisten Menschen denken, der Tod wäre das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Das ist nicht wahr. Nach einer Weile ist die Hoffnung eine sehr viel grausamere Gefährtin. Wenn man so lange damit lebt wie ich inzwischen, wenn der Hals dauernd auf dem Hackklotz liegt und die Axt erst tagelang, dann monatelang, schließlich jahrelang über einem schwebt, sehnt man sich schließlich danach, dass sie fällt und einem den Kopf abtrennt. Die meisten Menschen glauben, meine Mutter hätte uns verlassen, weil meine Schwester ermordet worden ist.
Das Gegenteil ist der Fall. Meine Mutter hat uns verlassen, weil wir nie beweisen konnten, dass sie tot war.
    Ich wünschte, Wayne Steubens würde erzählen, was er mit ihr gemacht hat. Nicht um eine richtige Trauerfeier zu veranstalten oder so etwas. Das wäre schön, aber darum ging es mir nicht. Der Tod hat die reine Zerstörungskraft einer Abrisskugel. Wenn er einen traf, war man am Boden zerstört, fing dann aber bald wieder an, etwas Neues aufzubauen. Aber durch die Ungewissheit  – den Zweifel, diesen winzigen Hoffnungsschimmer – nagte der Tod wie Termiten an einem Haus, oder er zerstörte einen wie eine zehrende Krankheit den Körper. Man wurde von innen heraus zerfressen. Diesen inneren Verwesungsprozess kann man nicht aufhalten. Und man konnte nicht mit
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