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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald
Autoren: H Coben
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worden war.
    Das dürfte eigentlich niemanden schockieren.
    Im Lauf der Jahre habe ich gelernt – auf die schrecklichste Art, die man sich vorstellen kann –, dass die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen außergewöhnlicher Schönheit und grauenerregender Hässlichkeit, zwischen einem absolut unschuldigen Szenario und einem fürchterlichen Blutbad außergewöhnlich durchlässig sein kann. Es dauert keine Sekunde, dann hat man diesen schmalen Grat überschritten. Gerade ist das Leben noch die reinste Idylle. Man befindet sich an einem so unschuldigen Ort wie einer Schulturnhalle. Die kleine Tochter macht gerade eine Pirouette. Sie juchzt ausgelassen. Ihre Augen sind geschlossen. Man sieht ihre Mutter in ihr, weil sie genauso lächelt und dabei die Augen zusammenkneift, und in diesem Moment fällt einem wieder ein, wie schmal dieser Grat eigentlich ist.
    »Cope?«
    Greta, meine Schwägerin, musterte mich mit dem üblichen, besorgten Gesichtsausdruck. Ich lächelte dagegen an.
    »Woran denkst du gerade?«, flüsterte sie.
    Sie wusste ganz genau, dass ich sie sowieso belügen würde.

    »An Mini-Videokameras«, sagte ich.
    »Was?«
    Die anderen Eltern saßen auf den Klappstühlen. Ich lehnte mit verschränkten Armen hinter ihnen an der Zementwand. Über dem Eingang hing die Hallenordnung, und an den Wänden standen diverse unangenehm bedeutungsschwangere Sinnsprüche, wie: »Du kannst mehr, als du meinst, nur wollen musst du.« Die zusammengeklappten Esstische lehnten neben mir an der Wand und boten einen weiteren Beweis dafür, dass sich Grundschulturnhallen nicht verändern. Sie werden nur kleiner, wenn man älter wird.
    Ich deutete auf die Eltern. »Hier sind mehr Videokameras als Kinder in der Halle.«
    Greta nickte.
    »Und die Eltern filmen alles. Einfach alles. Was machen sie mit den ganzen Videos? Guckt sich die wirklich noch mal jemand von Anfang bis Ende an?«
    »Tust du das nicht?«
    »Lieber würde ich ein Kind gebären.«
    Sie lächelte. »Nein«, sagte sie, »würdest du nicht.«
    »Also gut, das vielleicht nicht, aber sind wir nicht alle Teil der MTV-Generation? Es geht um schnelle Schnitte. Viele Perspektivwechsel. Aber so etwas einfach abzufilmen und diese Bilder dann nichts ahnenden Verwandten oder Freunden vorzusetzen, erfüllt doch …«
    Die Tür ging auf. Den beiden Männer, die die Turnhalle betraten, sah ich sofort an, dass sie Polizisten waren. Selbst ohne meine Erfahrung mit Polizisten – ich bin der Bezirksstaatsanwalt von Essex County, zu dem auch die recht gewalttätige Stadt Newark gehört – wäre mir das aufgefallen. Manchmal zeigt das Fernsehen doch die Wahrheit. Dazu gehören zum Beispiel gewisse Vorlieben vieler Polizisten bei der Wahl ihrer Kleidung  – die Väter im grünen Ridgewood kleiden sich einfach
anders. Wir kommen nicht in Anzügen, um unseren Kindern beim Turnen zuzugucken. Wir tragen Kordhosen oder Jeans und einen Pullunder über dem T-Shirt. Die beiden Männer trugen schlecht sitzende Anzüge in einem Braunton, der mich an Holzspäne nach einem Gewitter erinnerte.
    Sie lächelten nicht. Ihre Blicke durchstreiften die Halle. Ich kenne die meisten Polizisten aus dieser Gegend, die beiden hatte ich jedoch noch nie gesehen. Das irritierte mich. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste natürlich, dass ich nichts getan hatte, trotzdem empfand ich dieses »Ich war’s nicht, komme mir aber trotzdem ein bisschen schuldig vor«-Gefühl.
    Meine Schwägerin Greta und ihr Mann Bob hatten drei Kinder. Madison, die Jüngste, war sechs Jahre alt und ging mit meiner Cara in eine Klasse. Greta und Bob haben mir sehr geholfen. Nach dem Tod meiner Frau Jane – Gretas Schwester – waren sie nach Ridgewood gezogen. Greta hat immer behauptet, sie hätten das sowieso vorgehabt. Ich habe da meine Zweifel. Aber ich bin ihnen so dankbar, dass ich nicht allzu viele Fragen stelle. Ich weiß nicht, ob ich es ohne sie geschafft hätte.
    Die anderen Väter stehen normalerweise mit mir hinten an die Wand gelehnt, aber bei solchen Veranstaltungen mitten am Tag haben nur wenige Zeit. Die Mütter – außer der, die mich jetzt mit finsteren Blicken über ihre Videokamera anstarrte, weil sie meinen kurzen Anti-Videokamera-Vortrag mitgehört hatte – himmeln mich an. Das liegt natürlich nicht an mir, sondern an meiner Vorgeschichte. Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und ich erziehe meine Tochter allein. Hier in Ridgewood gibt es eine ganze Menge alleinerziehende Eltern, vor allem
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