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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald
Autoren: H Coben
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geschiedene Mütter, aber mir lässt man fast alles durchgehen. Wenn ich vergesse, eine Nachricht zu schreiben, meine Tochter zu spät abhole oder ihr Mittagessen auf dem Küchentisch stehen lasse, springen die anderen Mütter oder die Büroangestellten in der Schule ein, indem sie ihr helfen oder etwas
zu essen beisteuern. Männliche Hilflosigkeit finden sie niedlich. Wenn das einer alleinstehenden Mutter passieren würde, würden sie ihr vorwerfen, dass sie ihr Kind vernachlässigt, und übel über sie herziehen.
    Die Kinder kullerten und stolperten weiter eifrig herum. Ich beobachtete Cara. Sie konnte sich sehr gut konzentrieren und machte ihre Sache gut, trotzdem konnte ich mich des Verdachts nicht ganz erwehren, dass sie etwas von den Koordinationsproblemen ihres Vaters geerbt hatte. Ein paar Mädchen aus dem Turn-Team der Highschool gaben Hilfestellung. Sie waren im letzten Schuljahr, mussten also siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Das Mädchen, das Cara beim Versuch, einen Purzelbaum zu schlagen, unterstützte, erinnerte mich an meine Schwester. Meine Schwester Camille war gestorben, als sie etwa so alt war wie diese Mädchen, und die Medien hatten dafür gesorgt, dass ich das nie vergaß. Aber das war vielleicht auch besser so.
    Meine Schwester wäre jetzt Ende dreißig gewesen, also mindestens so alt wie diese Mütter hier sind. Das ist ein seltsamer Gedanke. Ich sehe Camille immer als Teenager. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie jetzt tun würde – eigentlich müsste sie mit diesem etwas debil-glücklich-besorgten »Zuerst einmal bin ich Mutter«-Lächeln in einem von diesen Stühlen sitzen und ihren Nachwuchs filmen. Ich frage mich, wie sie jetzt wohl aussehen würde, aber wieder habe ich nur den verstorbenen Teenager vor Augen.
    Es macht vielleicht den Eindruck, dass ich etwas besessen vom Tod bin, aber zwischen der Ermordung meiner Schwester und dem verfrühten Ableben meiner Frau besteht ein riesiger Unterschied. Erstere hat meine Berufswahl bestimmt und mir meine heutige Karriere beschert. Im Gerichtssaal kann ich solche Ungerechtigkeiten bekämpfen. Und das tue ich auch. Ich versuche, die Welt sicherer zu machen, indem ich die Menschen, die anderen Schaden zufügen, hinter Gitter bringe, um
dadurch anderen Familien das zu geben, was meiner Familie nie vergönnt war – einen Schlusspunkt.
    Beim zweiten Tod, dem meiner Frau, war ich hilflos und habe Mist gebaut, und das werde ich – ganz egal, was ich jetzt oder in der Zukunft noch tue – nie wiedergutmachen können.
    Die Schulleiterin, die zu viel Lippenstift aufgelegt hatte, setzte ein besorgtes Lächeln auf und ging zum Eingang. Sie sprach die Polizisten an, die sie aber kaum beachteten. Ich verfolgte ihre Blicke. Als der größere Polizist – der Chef der beiden – mich sah, zögerte er kurz. Wir sahen uns einen Moment lang in die Augen. Mit einem fast unmerklichen Nicken forderte er mich auf, ihm nach draußen zu folgen, heraus aus diesem Refugium aus Lachen und Luftsprüngen. Ich bestätigte mit einem ebenso knappen Nicken, dass ich ihn verstanden hatte.
    »Wo gehst du hin?«, fragte Greta.
    Ich will nicht herzlos klingen, aber Greta war die hässliche Schwester. Sie sah ihr ähnlich, meiner lieblichen, toten Braut. Man sah, dass sie Schwestern waren. Doch die Merkmale, die die Schönheit meiner Jane noch erhöht hatten, hatten bei Greta eine andere Wirkung. Meine Frau hatte eine markante Nase, die irgendwie sexy war. Greta hat eine markante Nase, die, na ja, irgendwie groß war. Die weit auseinanderliegenden Augen hatten meiner Frau eine exotische Ausstrahlung verliehen. Greta sieht mit diesem großen Augenabstand ein wenig reptilienhaft aus.
    »Weiß ich selbst nicht genau«, sagte ich.
    »Arbeit?«
    »Möglich.«
    Sie blickte kurz zu den beiden vermeintlichen Polizisten hinüber und sah mich dann wieder an. »Ich wollte mit Madison bei Friendly’ s zu Mittag essen. Soll ich Cara mitnehmen?«
    »Klar, das wäre prima.«
    »Ich kann sie auch nach der Schule abholen.«

    Ich nickte. »Das wäre eine große Hilfe.«
    Dann gab Greta mir einen kurzen Kuss auf die Wange – das tut sie nur sehr selten. Ich machte mich auf den Weg. Lautes Kinderlachen begleitete mich. Ich öffnete die Tür und trat in den Flur. Die beiden Polizisten folgten mir. Auch Schulflure verändern sich nicht sehr. Mit ihrer fast vollständigen Stille und dem schwachen, aber charakteristischen Geruch, der gleichzeitig beruhigt und anregt, erinnern sie mich
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