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Gottesopfer (epub)

Titel: Gottesopfer (epub)
Autoren: Tanja Pleva
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er solchen Hokuspokus nicht dulde. Sam war laut geworden und hatte ihn beschworen, Doktor Ritter zu ihr zu lassen. Erst als er dem Arzt gedroht hatte, ihn dafür verantwortlich zu machen, falls Lina ermordet wurde, hatte dieser nachgegeben.
    Die Frau lag im Bett und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Wie immer brabbelte sie Bibelverse vor sich hin. Von den drei Männern, die eben ihr Zimmer betreten hatten, nahm sie keine Notiz. Doktor Ritter sah erst sie kopfschüttelnd an und dann Sam.
    Â»Meinen Sie wirklich, es ist hoffnungslos?«, fragte Sam.

    Â»Ich fürchte es. Aber ich werde es trotzdem versuchen.«
    Er holte eine Papiertüte aus seiner Tasche und stellte sich neben das Bett.
    Doktor Willfurth lehnte mit verschränkten Armen, die seine Missbilligung zum Ausdruck bringen sollten, an der Fensterbank und beobachtete Doktor Ritter. Dieser bewegte jetzt direkt vor den Augen der Frau seinen Zeigefinger von links nach rechts, doch ihr Blick blieb starr auf die Wand gerichtet. Doktor Willfurth zog die Augenbrauen nach oben, was wohl in etwa heißen sollte: »Na, Herr Kollege, da kommen Sie auch nicht weiter …«
    Der Hypnosetherapeut seufzte tief und griff dann nach der Tüte. Er blies sie auf und ließ sie direkt neben dem Ohr der Frau platzen. Als hätte man bei einer Marionette die Fäden durchtrennt, sackte die Frau zusammen und blieb reglos auf dem Bett liegen. Doktor Willfurth stürzte zu ihr und schob Doktor Ritter beiseite. Wahrscheinlich fürchtete er, dass seine Patientin einen Herzinfarkt bekommen hatte, denn er fühlte hektisch ihren Puls. Dann entspannte sich sein Gesicht, und auch Sam atmete auf. Alles war offenbar in Ordnung.
    Â»Ich möchte, dass Sie sich auf Ihren Atem konzentrieren. Atmen Sie tief ein und aus«, sagte Doktor Ritter mit monotoner Stimme.
    Keine Reaktion.
    Â»Wahrscheinlich haben Sie nicht nur die Tüte, sondern auch ihr Trommelfell zum Platzen gebracht«, sagte Doktor Willfurth sarkastisch und stellte sich wieder an die Fensterbank.
    Doktor Ritter beachtete ihn nicht. »Wenn Sie mich hören können, geben Sie mir ein Zeichen, indem Sie die Augen öffnen.«
    Doch die Patientin hielt die Augen geschlossen und lag ruhig da.
    Â»Ich möchte, dass Sie sich an die schönste Zeit Ihres Lebens zurückerinnern. An Ihre Kindheit vielleicht oder an Ihre Jugend, an Ihre erste große Liebe.«

    Wieder keine Reaktion. Doktor Ritter drehte sich zu Sam und hob resignierend die Schultern.
    Â»Schön warm.« Eine feine, hohe Mädchenstimme kam aus dem Mund der Frau.
    Doktor Ritter fuhr herum und blickte erstaunt auf die Patientin, die plötzlich lächelte. Auch Doktor Willfurth war ungläubig ans Bett herangetreten, fast schien es, als hätte er aufgehört zu atmen. Auch Sam hielt vor Anspannung die Luft an.
    Â»Wo ist es schön warm?«, fragte Doktor Ritter behutsam.
    Â»Im Wasser.«
    Â»Was kannst du noch sehen?«
    Â»Meine Mama. Sie hat ein Kleid mit Blumen an. Sie ist schön. Ich will so sein wie sie.«
    Â»Wie alt bist du?«
    Â»Sechs.«
    Â»Wie heißt du?«
    Â»Solveigh.«
    Doktor Ritter nickte den beiden Männern zu, die direkt hinter ihm standen.
    Â»Solveigh, ich möchte, dass du in deinem Leben weiter nach vorne gehst. Zu einem Erlebnis, das weniger schön für dich war.«
    Eine Pause trat ein. Sie schien unendlich lang zu sein. Die Spannung in dem kleinen Krankenzimmer war fast mit den Händen zu greifen. Die drei Männer starrten erwartungsvoll auf das Bett herunter. Dann sprach sie wieder, doch nun war ihr kindliches Lächeln verschwunden.
    Â»Er hat mir eine Sechs gegeben.«
    Â»Wer?«
    Â»Mein Physiklehrer. Er mag mich nicht, weil ich nicht verstehe, was er redet.«
    Â»Wie alt bist du, Solveigh?«
    Â»Vierzehn.«
    Â»Ich möchte, dass du in die Zeit gehst, als du nicht mehr in der Schule bist. Was macht dir Spaß?«

    Â»Ich helfe gern Menschen.«
    Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie klang fest und entschlossen, wie die einer erwachsenen Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht.
    Â»Arbeitest du?«
    Â»Ja.«
    Â»Wo?«
    Â»Für einen Pflegedienst.«
    Â»In welcher Stadt?«
    Â»In Hamburg.«
    Doktor Ritter sah Sam fragend an. Die Möglichkeit, dass dieses Experiment funktionieren könnte, hatten sie beide für so unwahrscheinlich gehalten, dass sie nicht einmal besprochen hatten, was
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