Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)

Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)

Titel: Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
Autoren: Edgar Keiser
Vom Netzwerk:
Sondervorstellung in der Kasse hast. Nein, ich verlange nichts von deinem Geld. Vielmehr möchte ich, dass du mich auf meiner Reise begleitest, auf der ich mich schon sehr lange befinde.“
    Mr. Ilborn, der direkt am Fenster stand, löste sich in blauen, übel riechenden Rauch auf und entwich in die Nacht.
    Er war weg. Sogar der kleine Handkoffer war verschwunden.
    Während einige Straßenzüge weiter erneut Polizeisirenen aufheulten, schloss Tom das Fenster, als ob er dadurch für immer eine Mauer zwischen ihn und Mr. Ilborn ziehen könnte. Vielleicht hatte der unheimliche Mann es sich ja anders überlegt und war ohne ihn abgereist.
    Währenddessen war das Licht im Vorführraum wieder angegangen, und Tom erkannte dort, wo sich sein eigenes Gesicht im Fensterglas hätte spiegeln müssen, das Gesicht von Evander Ilborn.
    Mit einem Aufschrei rannte Tom zum Waschbecken, um in den darüber angebrachten Spiegel zu sehen. Der Kinobetreiber musste feststellen, dass für ihn die Sondervorstellung noch keineswegs beendet war. Das Gesicht war das von Mr. Ilborn, aber auch sein eigenes.
    Hatte er es etwa gewusst? Schon am ersten Tag, als der Fremde erstmals sein Kino betreten hatte, war Tom der Gedanke gekommen, dass er diesen Mann bereits kannte.
    Er kannte ihn, weil es sich um ihn selbst handelte.
    Er war seit vier Jahren tot.
    Vor seinem geistigen Auge lief der Autounfall völlig real ab. Er sah sich hinter dem Steuer des Pick ups, als dieser von der regennassen Fahrbahn abkam und sich dreimal überschlug.
    Wenn Evander Ilborn es geschafft hatte, ihn ins Leben zurückzuführen, wer war dann dieser Mann? Und wer war er selbst, wenn er das Gesicht von Evander Ilborn trug? Was war mit dem alten Tom Fuller geschehen?
    Angesichts dieser Fragen brach Tom weinend unter dem schmuddeligen Spiegel zusammen.
    „Ich bin du“, sagte ganz deutlich eine Stimme, und Tom erkannte, dass er es selbst gesagt hatte.
    „Ich bin du, weil du nicht mehr bist. Wenn ich dich besuchte, hast du immer dich selbst gesehen, aber du wolltest es vor dir nie zugeben. Die Leute, die mich überaus höflich auf der Straße grüßten, sahen immer nur Tom Fuller , da sie es nicht besser wussten. In den letzten vier Jahren waren wir immer ein- und dieselbe Person, bis ich mich vor einiger Zeit dazu entschloss, eine Vorstellung in deinem Kino zu besuchen. Deine Zeit geht zu Ende, Tom Fuller . Ich werde weiterreisen, und du wirst bei mir sein. Du wirst vergessen. Du wirst alles vergessen, denn du wirst immer weniger werden. Immer weniger.“
    Tom wand sich winselnd auf dem Fußboden, der schon seit mehreren Wochen nicht mehr aufgewischt worden war. Sein Bewusstsein wurde abgelassen wie schmutziges Abwasser.
    Noch einmal bäumte sich die schwindende Seele auf, und dann war nichts mehr von dem übrig, was Tom Fuller einst gewesen war.
    *
    Von alldem hatte Liam Prescott , der nette Herr am Bahnschalter, nur wenig mitbekommen. Er hörte nicht Radio und las auch keine Zeitung.
    Er hatte zwar gestern Abend vereinzelte Polizeisirenen gehört, aber Prescott war leicht schwerhörig und außerdem nicht der Mann, der solchen Dingen auf den Grund ging.
    Am frühen Morgen des fünfundzwanzigsten Juli hatte er wie immer sein in der Nähe des Bahnhofs gelegenes Haus verlassen, um zur Arbeit am Bahnschalter zu gehen. Die Schalterhalle war erwartungsgemäß noch völlig leer, und so freute er sich auf einen Schnaps zum Aufwärmen. Nach drei Wochen Gluthitze hatte es über Nacht einen gleichermaßen überraschenden wie beträchtlichen Wetterumschwung gegeben. Das Klima spielte von Jahr zu Jahr immer häufiger verrückt.
    Prescott öffnete den Wandschrank hinter dem Schalter und entnahm ein sauberes Glas, da öffnete sich unverhofft die Eingangstür. Prescott schloss murrend den Schrank wieder und begab sich zum Schalter.
    Ein hagerer Mann um die Fünfzig trat ein. Er trug einen Trenchcoat und führte einen kleinen Handkoffer mit sich. Sein Gesicht gehörte zwar zu den Gesichtern, die man sofort wieder vergisst, aber Prescott spürte, dass es am besten wäre, wenn dieser Mann möglichst schnell wieder verschwinden würde.
    „Guten Morgen, Mister. Was kann ich für Sie tun?“
    Der Fremde blies ein wenig Rauch aus ( Prescott sah keine Zigarette) und trat an den Schalter. Seine Augen schienen einen Horizont zu sehen, der unendlich weit hinter Liam Prescott liegen musste.
    Zum allerletzten Mal meldete sich ein Rest Tom Fullers zu Wort:
    „Einmal Raucherloge, bitte!“
    E N D E
    zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher