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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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dieser offenkundigen Ungerechtigkeit gewusst, schuld daran sei allein ein ganz unsowjetischer Machtkampf unter seinen betrügerischen Untergebenen gewesen.
    Nun aber schrieb sie an Stalin persönlich, an des Landes Gewissen und revolutionäre Herrlichkeit. Meine Mutter unterzeichnete den Brief, faltete ihn zweimal und übergab den Umschlag Fjodor, der sich um das Krankenhauspferd Weruschka kümmerte und jeden zweiten Tag mit dem Einspänner in die acht Kilometer entfernte nächste Stadt fuhr.
    Ein paar Wochen später, als ihre Aufmerksamkeit längst wieder von den üblichen Verletzungen und Krankheiten in Anspruch genommen wurde und sie schon gar nicht mehr an das Schreiben dachte, wurde sie zum Leiter des Gesundheitsressorts für das Gebiet bestellt. Genosse Palkin saß hinter einem Schreibtisch, in einer schmucken Militäruniform wie Stalin, mit dünn umrandeter Nickelbrille wie der Leiter des NKWD, Beria. Sein Kopf war klein und kahl, seine Ohren mit leichtem Flaum bedeckt, und seine massigen Unterarme, die so aussahen, als gehörten sie zu einem stattlicheren Mann, lagen wie Backsteine auf dem Schreibtisch. Er lehnte sich über die vor ihm ausgebreiteten Papiere, als seien sie seine Gefangenen, und erhob sich nicht, als meine Mutter hereinkam, trotz der Beteuerung meiner Großmutter, ein Mann müsse sich unbedingt erheben, sobald eine Frau den Raum betrete.
    »An wen haben Sie geschrieben?«, fragte Palkin ernst, kaum dass sie Platz genommen hatte.
    »Ich habe an den Generalsekretär Stalin geschrieben«, sagte meine Mutter.
    Palkin starrte wie versteinert durch seine Brille, und sie musste an Onkel Wolja denken. Sie hatten noch immer nichts |18| von ihm gehört, obwohl Tanta Lilja eine Woche freigenommen hatte und nach Moskau gereist war, wo sie vier Tage und Nächte lang vor dem NKW D-Gefängnis Lubjanka gestanden und darauf gewartet hatte, mit irgendjemandem sprechen zu dürfen, ohne dass man ihr Einlass gewährt hatte.
    Meine Mutter wollte sich jedoch auf keinen Fall anmerken lassen, dass sie Angst hatte, dass ihr Herz entgegen allem, was sie über Anatomie wusste, irgendwo in ihrer Kehle pochte. Gefühle zu zeigen, war genauso gefährlich wie irgendwelche Dinge auszuplaudern. Behalte deine Gedanken für dich, pflegte meine Großmutter zu sagen. An das, was in dir ist, kann niemand rühren.
    »Ich habe soeben diese Order aus Moskau erhalten«, knurrte Palkin, fletschte seine schlechten Zähne und spießte mit dem Finger ein Blatt Papier auf, während meine Mutter im Geiste bereits
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-Transporter und wild um sich schießende Polizeikommandos nahen sah. »Dieser Order zufolge stellt Moskau fünfzehntausend Rubel zur Verfügung, um Ihre Wohnung in eine Entbindungsstation umzuwandeln.«
    Er hätte genauso gut fünfzehn Millionen Rubel sagen können. Meine Mutter verdiente dreihundert Rubel im Monat, ein Gehalt, um das ihre ehemaligen Klassenkameraden sie beneideten, und da die größte Anschaffung, die sie sich je geleistet hatte, ein wollener Wintermantel war, hatte sie noch nie einen Rubelschein mit mehr als einer Null gesehen.
    Zurück im Krankenhaus, begab sie sich geradewegs ins Büro des Direktors der Torffabrik und bat ihn, ihr einen Raum im Arbeiterwohnheim zur Verfügung zu stellen. Wenige Tage nach ihrer Unterredung mit Genosse Palkin trafen die benötigten Gerätschaften ein und wurden mit noch nie da gewesener Effizienz in ihrer ehemaligen Wohnung aufgestellt. Im Frühjahr wurde eine Entbindungsstation mit vier Betten eröffnet, auf |19| der meine Mutter fünfzehn Babys auf die Welt verhalf. Bei den Geburten lernte sie, mit der Zange umzugehen, einen Fötus zu drehen und die Plazenta mit der Hand abzulösen. Die Frauen der Torffabrik erwiesen sich mit Einkaufsnetzen voll Gurken aus ihren Gärten und gelegentlich mit einer Dose Schweineschmalz erkenntlich.
    Meine Mutter fühlte sich euphorisch und wichtig: Mit ihrem Einsatz hatte sie
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, die Ordnung, aufrechterhalten. Die Ordnung, auf die das Land, auf die
sie
angewiesen war. All das schilderte sie in einem Brief nach Hause, der beim nochmaligen Durchlesen so hochtrabend und steif klang wie die Titelseite der ›Prawda‹. Dabei war das, was sie eigentlich sagen wollte, kurz und bündig:
    Sie hatte überlebt.

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DIE EHEMÄNNER MEINER MUTTER
    Als meine Mutter 1950 meinen Vater kennenlernte, hatte sie bereits eine achtjährige Tochter, meine Halbschwester Marina, und war zuvor zwei Mal verheiratet gewesen, zwei kometenhafte
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