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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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Ende der Straße oder vielmehr der ehemaligen Straße. Die Fenster waren allesamt zerstört und wurden mit Sperrholz zugenagelt. Im Hof gruben zwei Soldaten den Boden um und förderten dabei deutsche Leichname zutage, die dort begraben worden waren, bevor die Front sich nach Süden verlagert hatte.
    Sie stapelten die Leichen am Eingang und warfen sie auf einen Lastwagen, damit sie   – barfüßige Gefreite in Unterhosen, Offiziere in voller Montur   – aus dem Stadtzentrum geschafft wurden. Sie hatte auch lebendige Deutsche gesehen, allerdings nur aus der Ferne, wenn die Flugzeuge bei Bombenangriffen niedrig flogen und die Piloten aus ihren gläsernen Kanzeln grinsten und manchmal sogar winkten.
    Der zweite Mann meiner Mutter wurde direkt von der Front herbeigespült. Mit seiner Hauptmannsuniform und seinem blonden Haarschopf konnte man ihm einfach nicht widerstehen. Sobald sie im Büro des Politkommissars seine an den Ofen gelehnte starke Schulter sah, hatte sie das Bedürfnis, ihn zu berühren, sich an sein nach Tabak riechendes Militärhemd zu schmiegen und ihn zu bitten, sie zu beschützen. Er hieß Sascha, wie ihr erster Mann, und in diesem Zufall sah sie nicht nur eine Ironie, sondern auch eine Beständigkeit, eine gewisse Art von Ordnung. Eines Tages, nachdem sie noch spätnachts die letzte |26| Fleischwunde genäht hatte, begleitete er sie nach Hause in eine leere, zugige Wohnung und übernachtete auf der ledernen Turnmatte, die sie mithilfe einer Krankenschwester aus der Schule als Lager herbeigeschafft hatte.
    »Das wär’s also«, sagte meine Mutter am nächsten Morgen, obwohl sie nicht genau wusste, was genau mit »das« gemeint war. Sie wusste nur, dass die Dinge ihre Ordnung haben mussten. Wenn eine Frau mit einem Mann geschlafen hatte, musste sie ihn heiraten. Oder vielmehr musste er sie heiraten. Jedenfalls mussten sie die
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wahren, denn man konnte nicht wissen, welche erschreckende Anarchie durch eine solche unverheiratete Freizügigkeit womöglich entfesselt würde. Voller Bitterkeit dachte sie an ihren ersten Sascha, der so dreist gewesen war, an ihrem Charakter zu zweifeln.
    Obwohl der neue Sascha zunächst noch etwas zögerte   – wobei er sein bartloses Kinn rieb und einen Grund nach dem anderen vorbrachte, warum sie nicht gleich im Morgengrauen zum Standesamt eilen müssten   –, ließ meine Mutter nicht locker. Ordnung sei für sie eben wichtig, sagte sie sich, aber sie wusste, dass es in diesem Fall um mehr ging als um bloße Ordnung. Sie fühlte sich zu diesem blonden Hauptmann hingezogen wie eine Fliege zu einem Tropfen Honig.
    Es würde eine richtige Hochzeit geben, dachte sie, mit einem Mann, der sanft und freundlich zu sein schien. Er war außerdem Mitglied der Kommunistischen Partei, der Politkommisar seiner Division, zweifellos jemand mit moralischen Grundsätzen und einem ausgeprägten Sinn für die Zukunft nicht nur ihres Landes, sondern auch ihrer Zweisamkeit.
    Das Standesamt war ein Schreibtisch in einem kleinen Raum, in dem Todesfälle, Geburten sowie Vermisste registriert wurden. Zunächst schrieb meine Mutter auf einer linierten Seite aus einem Schulheft, hiermit erkläre sie sich aufgrund der |27| »Verheerungen des Krieges« als vom ersten Sascha geschieden. Sie wisse nicht, ob er tot oder noch am Leben sei, und sei angesichts der Besetzung und Zerstörung des Landes außerstande   – und nicht willens   –, eine Antwort darauf zu finden. Dann erklärte sie sich auf einer anderen Seite als mit dem neben ihr stehenden Sascha verheiratet.
    »Herzlichen Glückwunsch«, sagte die kurzatmige Frau hinter dem Schreibtisch, die einen Mantel und eine
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trug, deren Ohrenschützer unter ihrem Kinn zusammengebunden waren. Nachdem sie die purpurroten Stempel in ihren Pässen begutachtet hatten, begaben sich Sascha und meine Mutter in ihre kalte Wohnung, wo der Hauptmann zwei Teegläser mit Wodka trank und in Ohnmacht fiel.
    Ein paar Tage später erfuhr meine Mutter, dass ihr neuer Ehemann in der Stadt Atkarsk nicht nur eine Lebensgefährtin hatte, sondern auch eine zehnjährige Tochter, die er seit Ausbruch des Winterkrieges mit Finnland nicht mehr gesehen hatte. Sie erfuhr außerdem, dass er Tuberkulose hatte, und zwar die offene, hochansteckende Form, weshalb er von der Front ins nahe gelegene Krankenhaus eingewiesen worden war. Nur kurze Zeit später wäre eine militärische Versetzungsverfügung mit seiner Akte an sie gegangen.
    Nach einem weiteren
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