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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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Schreiben bei der Anatomischen Fakultät der Leningrader Universität, an der er studierte, nach ihm. Die Antwort traf Monate später ein, im Herbst des Jahres 1941, als deutsche Truppen bereits weit ins Landesinnere vorgedrungen waren. Wie alle Ärzte |23| war auch Sascha an die Front abkommandiert worden. Auf der Landkarte der Sowjetunion, wo der schwarze Fleck deutscher Truppen sich zusehends vergrößerte, gab es bereits mehrere Fronten, und niemand wusste, wohin Sascha geschickt worden war. Niemand hat es je erfahren.
     
    Als Ärztin und Anatomiewissenschaftlerin an der Medizinischen Hochschule von Iwanowo wurde meine Mutter ebenfalls eingezogen, fort von ihren Petrischalen und seit geraumer Zeit leblosen Organen, die in Glasgefäßen mit Formaldehyd schwammen, um in einem Krankenhaus an der Front lebendiges, zerfetztes Fleisch zusammenzunähen. In ihrer frisch ausgehändigten Uniform, einem eng anliegenden Rock und einer von einem Gürtel mit Hammer-und-Sichel-Koppel zusammengehaltenen khakifarbenen Bluse, sah sie trotz ihrer schwarzen Armeestiefel, die zwei Nummern zu groß waren, für den Krieg zu hübsch aus, so gertenschlank und langbeinig.
    Ihre drei Brüder waren während des Winterkrieges eingezogen worden. Sie waren an den entgegengesetzten Enden des Landes stationiert, Sima und Wowa im Fernen Osten, nahe Japan, und Juwa an der Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen. Als die ersten deutschen Panzer sich am Sonntag, dem 22.   Juni 1941 erstmals über sowjetischen Boden wälzten, dachte meine Mutter an Juwa. Wie jeder andere im Land lauschte sie ganz benommen und fassungslos der aus den Lautsprechern ertönenden Stimme Molotows, die den Einmarsch verkündete. Sie stand neben dem Krankenwagen der städtischen Notaufnahme, wo sie an den Wochenenden im Einsatz war, die Türen offen, der Motor gedrosselt. In der Luft hing feuchter Fliederduft, und die Sonne strahlte unbekümmert durch das zarte Gespinst aus Juniblättern, wie eine Verrückte, die angesichts ihres |24| in Flammen stehenden Hauses lacht und tanzt. Warum sprach Molotow, der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, zum Volk und nicht Stalin persönlich? Wo war Stalin, als die deutschen Panzer ganze Einheiten von Brüdern und Söhnen und sogar launischen Ehemännern niederwalzten?
    Das Krankenhaus, in das sie abkommandiert wurde, war lediglich ein Eisenbahnwaggon, der anderthalb Kilometer außerhalb der von den Deutschen besetzten Stadt Kalinin auf einem Abstellgleis stand. Dort wurde meine Mutter erstmals Zeugin der nicht zu beherrschenden Läuseplage. Die Verwundeten wurden in Lastwagen von der einen Kilometer entfernten Front herbeigeschafft, und obwohl sie die Läuse mit einer Teetasse aus den Wunden schöpfte und die Lappen mit aller Sorgfalt ausspülte, setzte sich das Ungeziefer in den schmutzigen Verbandsschichten fest, so dass die Verwundeten nicht schlafen konnten und die ganze Nacht hindurch brüllten. Diese verwundeten Burschen waren jünger als sie   – so alt wie ihre Brüder   –, und sie musterte ihre staubigen Gesichter, in der leisen Hoffnung, ihr Bruder könne womöglich wie durch ein Wunder von der siebenhundert Kilometer entfernten polnischen Grenze in ihr Krankenhaus gebracht werden, damit sie ihn wieder gesund machte.
    Jede Woche schrieb sie in ihrer kantigen Schrift einen Brief an ihre Eltern.
Meine liebe Mamotschka und Papotschka, ich hoffe, allen geht es gut. Ich hoffe, meine Schwester Musa lernt fleißig und hilft Euch während meiner Abwesenheit in Haus und Garten. Ich hoffe, unser lieber Juwa kämpft so tapfer wie unsere Burschen hier gegen den Feind.
Ihre Briefe waren immer voller Hoffnung. Eigentlich wollte sie sagen, sie hoffe, ihr Bruder Juwa sei nicht unter den Tausenden von Leichen, die unter die warme Sommererde Westrusslands gepflügt worden waren, aber so etwas konnte sie natürlich ihren Eltern nicht schreiben. |25| Während sie mit ansehen musste, wie die Frontlinie auf der Karte über dem Bett des Krankenhaus-Politkommissars immer weiter nach Osten flutete, musste sie darauf achten, dass ihre Briefe nicht so besorgt und niedergeschlagen klangen, wie sie sich eigentlich fühlte.
Die Feldpost ist sehr langsam
, schrieb sie als Entschuldigung dafür, dass sie seit nunmehr sechs Monaten nichts mehr von Juwa gehört hatten.
    Anfang Dezember, als der Feind aus Kalinin vertrieben worden war, kam der Bescheid, dass das Krankenhaus in eine Schule in der Stadt verlegt werde. Die Schule befand sich am
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