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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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von Akademikern. Da mein Großvater kein Bauer mehr war, musste meine Mutter zwei Monate warten, bis die Tochter einer Melkerin das Studium abbrach und somit ein Platz frei wurde. Im November, als der Regen auf die staubigen Straßen von Iwanowo prasselte und sie in regelrechte Schlammtrassen verwandelte, wurde sie Teil der ersten bunt zusammengewürfelten Gruppe sowjetischer Ärzte, die aus dem Laboratorium des neuen Staates hervorging und unversehens aus den Vorlesungssälen in den Kessel des Krieges gestoßen wurde.
    Während ihres ersten Studienjahres wurde sie nach der neuen, sogenannten Brigade-Methode unterrichtet: Ein Student, der Brigade-Kommandeur, musste sich stellvertretend für die gesamte zwanzigköpfige Klasse prüfen lassen. Meine Mutter bemitleidete den schlaksigen Igor, der schwitzend vor ihrer Klasse stand, den schmalen Nacken über ein Lehrbuch gebeugt, das er Seite um Seite mit seiner monotonen Stimme herunterbetete, irgendetwas über Moleküle und Zellen, ein Biologiekapitel, zu dem er Ende der Woche geprüft werden sollte. Der Test würde entweder allen aus der Gruppe, ob sie sich unterhielten, mit offenen Augen träumten oder vor sich hin dämmerten, zur Ehre gereichen oder aber für sämtliche Beteiligte das Scheitern bedeuten. Gewissenhaft und farblos, wie er war, bestand Igor jede Prüfung.
    Im zweiten Studienjahr wurde die Brigade-Methode vom individuellen Lernen abgelöst. Ein Anatomieprofessor reiste |13| eigens aus Moskau an und ließ prompt einen ehemaligen Traktorfahrer durchfallen. Die Tage des Dämmerns und Träumens waren endgültig vorüber.
    Zum ersten Mal, seit sie Medizin studierte, schlug meine Mutter ein Lehrbuch auf und prägte sich mit eisernem Willen den Namen jedes Knochens, Blutgefäßes, Muskels, Gewebes, jeder Sehne und jedes Gelenkes ein. Sie bestand die Abschlussprüfung in Anatomie. Sie bestand das chirurgische Praktikum sowie das schwerste Examen überhaupt, das in Wissenschaftlichem Kommunismus, eine auf Zitaten von Marx, Engels und Lenin basierende, überstürzt ins Leben gerufene Lehrveranstaltung, deren Besuch Voraussetzung war für einen Abschluss an jeder Universität der Sowjetunion, ganz gleich in welcher ihrer elf Zeitzonen.
    Drei Monate nach ihrem Examen war meine Mutter die Leiterin und einzige Ärztin eines dreißig Kilometer von Iwanowo entfernt auf dem Land errichteten Fünfzehn-Betten-Krankenhauses in der Nähe einer Fabrik, die aus dem Torf der nahe gelegenen Sümpfe Ziegel produzierte. Mit dem Tatendrang und Enthusiasmus, der die erste sozialistisch geprägte Generation kennzeichnete, konnte sie es kaum erwarten, ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. Man schrieb das Jahr 1937, das zwanzigste der Sowjetmacht, dasjenige, in dem der Gulag so viele Lager umfasste wie nie zuvor. Es war das dreiundzwanzigste Lebensjahr meiner Mutter   – als sie erstmals von zu Hause wegging, als ihre Zukunft am Horizont aufstieg wie die gewaltige purpurne Sonne über den Sümpfen vor dem Fenster ihrer neuen Wohnung.
    Sie richtete eine Wundstation ein, auf der sie Opfer von Unfällen verband, die sich größtenteils bei der Arbeit ereigneten: verletzte Finger, gebrochene Arme, geprellte Rücken und Schultern. Aber sie wusste, dass sie noch mehr würde |14| bewirken können. Obwohl die meisten Fabrikarbeiter Frauen waren, gab es im Krankenhaus keine Entbindungsstation. Um ihre Kinder zur Welt zu bringen, mussten sich die Frauen mit einem Pferdekarren ins acht Kilometer entfernte Gebietskrankenhaus begeben, eine lange Fahrt auf einem nicht selten verschneiten oder von Regengüssen ausgewaschenen Weg. Zwei Babys waren bereits unterwegs geboren worden, von denen das eine nicht überlebt hatte. Sie telefonierte mit der örtlichen Gesundheitsbehörde, die sie wissen ließ, dass in Zeiten, da Typhus- und Tuberkuloseepidemien ganze Städte auslöschten, Entbindungsstationen keine Priorität hätten.
    In ihrer Empörung über die Ignoranz der Behörde setzte meine Mutter sich hin und schrieb einen Brief an den höchsten Mann im Staat. An den Generalsekretär, Moskau, Kreml. »Sehr geehrter Genosse Stalin«, begann ihr Schreiben. »Die Patientinnen meines Krankenhauses können nirgendwo unsere neuen Staatsbürger zur Welt bringen. Die sowjetischen Frauen, die sich für unser aller lichte Zukunft in Torfmooren abplagen, haben Besseres verdient.« Sie hielt inne und überlegte, wie sie ihr Ansinnen formulieren sollte, um mit einem einfachen, wirkungsvollen Satz durch
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