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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
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sichtbar sein als die Zigaretten, denn sie verfügen nicht über einen parallelen Markt. Als waren sie nie transportiert worden, sondern wüchsen auf den Feldern und würden von unbekannter Hand geerntet. Während Geld nicht stinkt, hat Ware einen Geruch. Aber nicht den des Meeres, das hinter ihr liegt, nicht den der Hände, die sie hergestellt, und nicht den des Schmierfettes der mechanischen Arme, die sie zusammengesetzt haben. Die Ware riecht, wie sie riecht. Diesen Geruch entfaltet sie erst im Regal des Verkäufers, und er verflüchtigt sich im Haus des Käufers.
    Vom Meer aus erreichten wir unsere Mietskaserne. Kaum waren wir ausgestiegen, fuhr der Transporter los und brauste sofort wieder zum Hafen, um weiter und weiter und immer weiter Kartons zu laden. Halb bewußtlos fuhr ich mit dem Lastenaufzug hoch und zog mir nur das von Salzwasser und Schweiß durchnäßte T-Shirt aus, bevor ich mich aufs Bett warf. Ich weiß nicht, wie viele Kartons ich ein- und ausgeladen hatte. Aber ich hatte das Gefühl, Schuhe für halb Italien hin und her gewuchtet zu haben. Ich war so müde wie nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag. In der Wohnung standen die anderen gerade auf. Es war erst früher Vormittag.
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    In der nächsten Zeit begleitete ich Xian zu seinen Geschäftsterminen. In Wirklichkeit sollte ich ihm auf der Fahrt und während der Mahlzeiten Gesellschaft leisten. Ich redete zu viel oder zu wenig. Beides gefiel ihm. Ich verfolgte, wie man den Samen des Geldes ausstreut und aufzieht, wie der Boden für das Geschäft beackert wird. Wir kamen nach Las Vegas, im Norden von Neapel. Die Gegend hier heißt aus mehreren Gründen Las Vegas. Wie Las Vegas in Nevada mitten in der Wüste steht, so scheinen auch diese Siedlungen aus dem Nichts emporzuwachsen. Man erreicht sie über eine Wüstenei von Straßen. Kilometerlange breite Asphaltbänder, auf denen man diese Gegend in wenigen Minuten durchquert und die Autobahn nach Rom erreicht, direkt nach Norden. Straßen, die nicht für Autos, sondern für Lastwagen gebaut sind, nicht, um Menschen zu transportieren, sondern Kleider, Schuhe, Taschen. Wenn man von Neapel aus kommt, tauchen die Orte plötzlich auf, einer nach dem anderen. Zementhaufen. Von der Geraden zweigen in ununterbrochener Reihenfolge Zufahrten ab nach Casavatore, Caivano, Sant’ Antimo, Melito, Arzano, Piscinola, San Pietro a Patierno, Frattamaggiore, Frat-taminore, Grumo Nevano. Wege in alle Richtungen. Ununterscheidbare Häuseransammlungen, die ineinander übergehen. Die Straßen gehören zur Hälfte zur einen, zur Hälfte schon zur nächsten Ortschaft.
    Daß man die Gegend um Foggia Califoggia, den Süden Kalabriens Calafrica oder Calabria Saudita nennt oder daß man Sahara Consiliana statt Sala Consiliana sagt, Dritte Welt, wenn man die Gegend um Secondigliano meint, habe ich bestimmt schon hundertmal gehört. Hier aber ist Las Vegas wirklich Las Vegas. Jeder konnte sich an dieser Stelle als Unternehmer betätigen, über Jahre hinweg. Einen Traum verwirklichen. Mit einem Kredit, einer Abfindung oder ein paar Ersparnissen ließ sich eine Fabrik hochziehen. Man setzte auf ein Geschäft: wenn es klappte, bekam man Effizienz, Produktivität, Schnelligkeit, Verschwiegenheit und niedrige Lohnkosten. Wenn es klappte, war es, wie wenn man am Spieltisch auf die richtige Farbe setzt. Wenn es nicht klappte, machte man nach wenigen Monaten dicht. Las Vegas. Denn es existierten keinerlei präzise Verwaltungsvorschriften und Wirtschaftspläne. Schuhe und Textilien gelangten im verborgenen auf den internationalen Markt. Für die Städte war dieser wertvolle Wirtschaftszweig kein Aushängeschild, seine Produkte hatten um so mehr Erfolg, je heimlicher sie hergestellt wurden. In dieser Gegend wurden seit Jahren die besten Kleidungsstücke der italienischen Mode gefertigt. Und damit die besten Kleidungsstücke der Mode weltweit. Hier gab es keine Unternehmervereinigungen, keine Ausbildungsstätten, nichts außer Arbeitskräften, Nähmaschinen, kleinen Fabriken, nichts außer der verpackten und verschickten Ware. Nichts anderes als die ständige Wiederholung der gleichen Arbeitsgänge. Alles andere war überflüssig. Die Ausbildung erhielt man am Arbeitsplatz, unternehmerische Qualitäten bewies man durch Gewinn oder Verlust. Keinerlei Finanzierungen, keine Pläne, kein Training. Alles hier und jetzt auf dem Markt. Entweder verkaufen oder verlieren. Mit dem Steigen der Löhne wurden die Häuser besser, die
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