Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
Vom Netzwerk:
weigerten, die Ladung direkt bis zur Müllkippe zu transportieren. Die Operation »Eldorado« aus dem Jahr 2003 ergab, daß für diese Arbeit zunehmend Minderjährige herangezogen wurden. Die Lkw-Fahrer hatten Angst, mit den giftigen Substanzen in Berührung zu kommen. Tatsächlich war es ein Lkw-Fahrer gewesen, der 1991 den Anstoß zu den ersten großangelegten Ermittlungen gegen die illegale Müllentsorgung gegeben hatte. Mario Tamburrino war mit entzündeten Augen und geschwollenen Lidern ins Krankenhaus eingeliefert worden. Seine Augenhöhlen sahen aus wie Eidotter, die unter den Lidern hervorquollen. Er war vollkommen erblindet. Von seinen Händen hatte sich die oberste Hautschicht abgelöst, sie brannten, als hätte man sie mit Benzin übergossen und angezündet. In der Nähe seines Gesichts hatte sich ein Giftmüllbehälter geöffnet, das hatte genügt, ihn erblinden zu lassen. Er wäre beinahe verbrannt. Bei lebendigem Leib, ohne Benzin und ohne Flammen. Nach diesem Vorfall verlangten die Lkw-Fahrer, daß die Giftmüllfässer in Anhängern transportiert wurden, um nicht mit ihnen in Berührung zu kommen. Am gefährlichsten waren die Lkws, die den kontaminierten Kompost transportierten, den mit giftigen Substanzen vermischten Dünger. Schon beim Einatmen konnten die Atmungsorgane irreparabel geschädigt werden. Der letzte Schritt, wenn die Fässer von den Lastwagen auf Pritschenwagen umgeladen und dann zur Grube gefahren werden mußten, war am gefährlichsten. Niemand fand sich bereit, diese Drecksarbeit zu erledigen. Die Fässer wurden aufeinandergestapelt, oft bekamen sie dabei Dellen, und es entwichen giftige Dämpfe. Wenn die Lastzüge eintrafen, stiegen die Fahrer nicht einmal aus. Sie ließen die Fässer von jemand anders abladen. Anschließend fuhren Jugendliche das Gift zur Deponie. Ein Schafhirte zeigte mir eine abschüssige Straße, wo die Jugendlichen mit dem Pritschenwagen übten, bevor die Ladung eintraf. Wo es bergab ging, zeigte man ihnen, wie sie bremsen mußten, doch ihre Beine reichten kaum hinunter bis zum Bremspedal. Vierzehn-, Fünfzehn-, Sechzehnjährige. Zweihundertfünfzig Euro pro Ladung. Rekrutiert wurden sie in einer Bar. Der Besitzer wußte Bescheid, aber er wagte nicht zu protestieren, obwohl er zwischen den Cappuccinos und Espressos, die er ausschenkte, mit seiner Ansicht nicht hinterm Berg hielt.
    »Dieses Zeug, das sie transportieren müssen ... je mehr sie davon einatmen, desto eher sind sie geliefert. Die schicken sie in den Tod, nicht zum Fahrenlernen.«
    Je öfter die kleinen Fahrer hörten, wie lebensgefährlich die Sache war, desto stolzer waren sie, an einem so großen Coup beteiligt zu sein. Sie reckten die Brust und versuchten, möglichst verächtlich hinter ihrer Sonnenbrille hervorzublicken. Sie kamen sich toll vor. Keiner von ihnen konnte sich auch nur für einen Augenblick vorstellen, daß er in zehn Jahren fällig war für eine Chemotherapie, daß er Galle spucken würde und seine inneren Organe irreparabel geschädigt wären.
    Es regnete unablässig. In kürzester Zeit hatte sich der Boden vollgesogen und nahm kein Wasser mehr auf. Die Hirten setzten sich gleichmütig, wie drei ausgemergelte Eremiten, unter ein Wellblechdach. Sie ließen die Straße nicht aus den Augen, derweil sich ihre Schafe auf einem Müllberg in Sicherheit brachten. Einer der Hirten stieß mit seinem Stock gegen das Dach, damit das Wasser ablaufen konnte und ihnen nicht auf die Köpfe tropfte. Ich war klatschnaß, doch das Wasser, das auf mich herunterprasselte, vermochte nicht das heftige Brennen zu lindern, das sich vom Magen aus in meinem ganzen Körper ausbreitete, bis hinauf ins Genick. Ich fragte mich, ob ein Mensch die innere Kraft aufbringen kann, sich einer derartigen Machtmaschinerie entgegen zustemmen. Ob es möglich war, etwas zu tun, irgend etwas, um sich dem Kreislauf des Geschäftemachern zu entziehen, sich zu retten und außer Reichweite dieser Dynamiken der Macht zu leben. Ich zerbrach mir den Kopf, ob es möglich war, die Mechanismen zu verstehen, sie zu entlarven und zu durchschauen, ohne von ihnen zerrieben zu werden. Vielleicht mußte man sich entscheiden: entweder zu wissen und damit kompromittiert zu sein oder nicht zu wissen und unbeschwert zu leben. Vielleicht blieb einem gar nichts anderes übrig, als zu vergessen und die Augen zu verschließen: die amtliche Version der Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, aber auch das nur zerstreut, und es bei einem Lamento zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher