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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
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in der einen und einem Bündel Geldscheinen in der anderen Hand, um für diese Zahnreinigung zu bezahlen. Der Arzt jagte sie aus seinem Sprechzimmer und rief mich voller Empörung an: »Woher zum Teufel haben sie bloß diese Schädel? Wo finden sie sie?« Er hatte apokalyptische Visionen von satanischen Beschwörungen und Initiationsriten. Ich mußte lachen. Es war unschwer zu erraten, woher diese Schädel stammten. Als ich einmal bei Santa Maria Capua Vetere mit der Vespa unterwegs war, hatte ich plötzlich einen Platten. Der Reifen war von irgend etwas spitz Zulaufendem zerschnitten worden, ich dachte zuerst an den Oberschenkelknochen eines Büffels. Aber dafür war er zu klein. Es war ein menschlicher Oberschenkelknochen. Auf Friedhöfen werden in regelmäßigen Abständen Exhumierungen durchgeführt, Exhumierungen von Toten, die seit mehr als vierzig Jahren unter der Erde liegen. Die jüngeren Totengräber sprechen von »arcimorti«, Erztoten. Samt den Sargresten und anderem Material einschließlich der Grabkerzen müßten sie eigentlich durch Speziai unternehmen entsorgt werden. Die Kosten dafür sind exorbitant, daher drückt die Friedhofsverwaltung den Totengräbern ein paar Geldscheine in die Hand, damit sie die Sachen ausgraben und auf Lkws werfen. Erde, morsche Särge und Gebeine. Ururgroßeltern, Urgroßeltern und Großeltern weiß der Himmel woher wurden im casertanischen Hinterland aufeinandergeschichtet. Nach Angaben des NAS (Nucleo Antisofisticazioni, einer Sondereinheit der Carabinieri gegen Lebensmittelverfälschung) von Caserta vom Februar 2006 landen so viele Skelette auf den hiesigen Deponien, daß die Leute sich bekreuzigen, wenn sie hier vorbeikommen, als passierten sie einen Friedhof. Die Jugendlichen streifen sich die Küchenhandschuhe ihrer Mütter über und graben mit Händen und Löffeln nach Schädeln und intakten Brustkörben. Für einen Schädel mit weißen Zähnen bekommen sie von den Flo hm arkthändlern bis zu hundert, für einen Thorax mit unbeschädigten Rippen bis zu dreihundert Euro. Für Schienbeine, Oberschenkel- und Armknochen gibt es keinen Markt. Für Hände schon, aber davon sind kaum welche komplett. Schädel mit schwarzen Zähnen sind fünfzig Euro wert, die Nachfrage dafür hält sich jedoch in Grenzen. Die Käufer scheint nicht der Gedanke des Todes an sich zu stören, sondern die Tatsache, daß die Zähne langsam verfaulen.
    Die Clans schaffen einfach alles von Nord nach Süd. Der Bischof von Nola nannte den Süden Italiens einmal die illegale Müllkippe des reichen, industrialisierten Nordens. Die Abfälle aus der thermischen Industrie, etwa der Aluminiumproduktion, der Giftstaub aus Rauchgasniederschlägen insbesondere der Stahlindustrie, der Wärmekraftwerke und Müllverbrennungsanlagen. Die Rückstände von Lacken, schwermetallhaltige Lösungen und Asbest, verseuchte Erde aus Maßnahmen zur Bodensanierung, die nichtverseuchten Boden kontaminiert. Und die Abfallprodukte überalterter, hochgefährlicher
    Anlagen der petrochemischen Industrie wie dem ehemaligen Enichem in Priolo, Schlämme aus den Gerbereien von Santa Croce sull’Arno und den Kläranlagen von Venedig und Forli, die sich im Besitz vorwiegend staatlicher Kapitalgesellschaften befinden.
    Der Kreislauf der illegalen Müllentsorgung beginnt bei der Großindustrie, aber auch bei kleineren Unternehmen, die ihre schadstoffhaltigen Abfälle möglichst billig loswerden wollen. Auf einer zweiten Ebene sind die Betreiber von Sammelstellen beteiligt, die eine ganz bestimmte Technik praktizieren: die Mülladungen werden mit wechselnden Papieren ausgestattet, bis niemand mehr nachvollziehen kann, woher das Zeug stammt. Sie sammeln den Abfall und vermischen ihn mit gewöhnlichem Müll. Dadurch sinkt die Schadstoffkonzentration, und der Müll wird entsprechend dem Europäischen Abfallkatalog in seiner Gefährlichkeit heruntergestuft.
    Die Chemiker spielen bei der Deklarierung von Giftmüll als ungefährlichem Abfall eine Schlüsselrolle. Oft stellen sie Papiere mit falschen Analysedaten aus. Weitere Glieder in der Kette sind die Transportunternehmen, die die Abfälle quer durchs Land zu den ausgewählten Entsorgungsplätzen fahren, und schließlich die Entsorger. Dies können Betreiber legaler Müllhalden sein, Kompostierungsfirmen, die aus organischem Abfall Dünger herstellen, aber auch Besitzer von aufgelassenen Kies- und Sandgruben oder von ganz gewöhnlichem Ackerland. Jeder, der ein Fleckchen Erde besitzt, kann
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