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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
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Mühe hatte, mich auf den Beinen zu halten. Auf den Felsen erwartete uns Xian. Mit einem Papiermesser bewaffnet, ging er auf eine große Schachtel zu und schnitt das breite Klebeband über den Kartonlaschen auf. Heraus kamen Turnschuhe, Originale der berühmtesten Marken. Neue, neueste Modelle, die noch gar nicht auf dem italienischen Markt waren. Weil er eine Kontrolle der Finanzpolizei fürchtete, hatte Xian die Ladung lieber auf offenem Meer löschen lassen. Ein Teil der Waren konnte auf diese Weise ohne Steueraufschlag angeboten werden, und die Großhändler brauchten keinen Zoll zu bezahlen. Die Konkurrenz muß man mit Preisnachlässen aus dem Feld schlagen. Bei gleicher Qualität vier, sechs oder sogar zehn Prozent Rabatt. Sätze, die kein Vertreter bieten könnte, aber vom Rabatt lebt ein Geschäft, oder es geht ein, Rabatte ermöglichen die Eröffnung von Discountmärkten, garantieren sichere Einnahmen, und die Einnahmen garantieren Kreditwürdigkeit bei den Banken. Die Preise müssen sinken. Alles muß schnell ankommen und weiterwandern, ohne jedes Aufhebens. Beim Verkauf wie beim Einkauf die Preise immer mehr drücken. Dafür erhielten italienische und europäische Händler unverhoffte Hilfestellung. Sie kam durch den Hafen von Neapel.
    Wir luden alle Kartons in verschiedene Kleinlaster um. Auch die anderen Boote legten an. Die Transporter fuhren Richtung Rom, Viterbo, Latina und Formia. Xian sorgte dafür, daß wir nach Hause gebracht wurden.
    In den letzten Jahren hatte sich alles verändert. Alles. Urplötzlich. Einige spürten den Wandel, konnten ihn aber noch nicht ganz fassen. Bis vor zehn Jahren waren im Golf von Neapel Schmuggler unterwegs gewesen, am frühen Morgen versorgten sie die Kleinhändler mit Zigaretten. In den Straßen wimmelte es von Menschen, Autos voller Zigarettenstangen, an Straßenecken Stände und Bänke für den Verkauf. Zwischen der Küstenwache, der Finanzpolizei und den Schmugglern spielten sich regelrechte Kriege ab. Man zahlte mit Tonnen von Zigaretten, um einer Verhaftung zu entgehen, oder nahm eine Verhaftung in Kauf, um Tonnen von Zigaretten zu retten, die im doppelten Boden eines flüchtenden Motorboots versteckt waren. Nächtelanges Schmierestehen, Pfiffe, um verdächtige Autos zu signalisieren, krächzende Walltie-Talkies, die Alarm schlugen, Menschenschlangen am Ufer, die die Kartons rasch weiterreichten. Autos rasten von der apuli-schen Küste ins Hinterland und von dort aus nach Kampanien. Die Strecke Neapel-Brindisi war die Hauptroute des florierenden Geschäfts mit Billigzigaretten. Der Schmuggel war das Fiat-Unternehmen des Südens, der Wohlfahrtsstaat der Staatenlosen. Zwanzigtausend Menschen lebten in Apulien und Kampanien ausschließlich vom Schmuggel. Anfang der achtziger Jahre löste der Schmuggel den großen Krieg der Camorra aus.
    Die apulischen und kampanischen Clans reimportierten die nicht mehr dem staatlichen Tabakmonopol unterliegenden Zigaretten nach Europa. Sie führten monatlich Tausende von Kisten aus Montenegro im Wert von fünfhundert Milli onen Lire pro Fracht ein. Heute ist alles auseinandergebrochen und völlig verändert. Dieses Geschäft lohnte sich nicht mehr für die Clans. Doch in Wirklichkeit gilt immer noch die Maxime Lavoisiers: nichts entsteht, nichts vergeht, alles wandelt sich. In der Natur, vor allem aber in der Dynamik des Kapitalismus. Jetzt bilden die Gegenstände des täglichen Gebrauchs und nicht mehr die Nikotinsucht die Grundlage für den Schmuggel. Ein verheerender Preiskampf tobt. Die Höhe der Preisnachlässe von Vertretern, Großhändlern und Händlern entscheidet über Leben und Tod aller an diesem Geschäft
    Beteiligten. Steuern, besonders die Mehrwertsteuer und das Maximalgewicht der Laster ziehen die Profite nach unten wie tonnenschwerer Zement und behindern den freien Waren-und Geldfluß. Deshalb verlagern die großen Unternehmen ihre Produktion in den Osten, nach Rumänien, Moldawien, nach Asien und vor allem nach China, um billige Arbeitskräfte zu finden. Aber das reicht nicht. Die billig hergestellte Ware muß auf einem Markt abgesetzt werden, auf dem immer mehr Käufer immer weniger und immer unsichereren Lohn erhalten, minimale Ersparnisse haben und auf jeden Cent achten müssen. Die Verkaufszahlen stagnieren, und deshalb müssen alle Güter, seien sie Originale oder Fälschungen, halb falsche oder teilweise echte, möglichst unauffällig in Umlauf gelangen. Ohne Spuren zu hinterlassen. Sie müssen weniger
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