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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
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und ich fand auf meinem Teller Bimssteine, Sand, ja sogar ein paar gekochte Algen. Die Vongole landeten genau so im Topf, wie sie aus dem Meer kamen. Garantiert frisch, aber mit hoher Infektionsgefahr. Längst ist man daran gewöhnt, daß Tintenfische wie Hühner schmecken, weil beide aus Züchtungen stammen. Um den unverwechselbaren Geschmack des Meeres auf der Zunge zu haben, mußte ich also ein bestimmtes Risiko eingehen. Da ich nun schon am Hafen war, fragte ich im Restaurant, wo ich ein Zimmer finden könnte.
    »Ich weiß nichts, hier gibt es keine Wohnungen mehr. Die reißen die Chinesen an sich ...«
    Aber ein Typ mitten im Raum blickte zu mir herüber und
    brüllte mit einer Stimme, die noch mächtiger wirkte, als er aussah: »Vielleicht gibt’s doch noch was.«
    Mehr sagte er nicht. Als wir beide mit dem Essen fertig waren, gingen wir die Straße am Hafen entlang. Er mußte mich nicht einmal auffordern, ihm zu folgen. Wir betraten ein gespenstisch wirkendes mehrgeschossiges Wohnhaus. Im dritten Stock befand sich die letzte an Studenten vermietete Wohnung. Allen anderen Mietern war bereits gekündigt worden, um das Haus leer stehen zu lassen. Es durfte nichts zurückbleiben. Keine Schränke, keine Betten, Bilder, Kommoden, nicht einmal Wände. Es mußte Platz gemacht werden, Platz für die Pakete, für die riesigen Schränke aus Karton, Platz für die Waren.
    In der Wohnung bekam ich eine Art Zimmer. Genauer gesagt einen Abstellraum, in den gerade ein Bett und ein Schrank paßten. Von Miete, Aufteilung der Stromrechnung oder einem Telefonanschluß war nicht die Rede. Ich wurde mit meinen vier Mitbewohnern bekannt gemacht, weiter nichts. Sie erklärten mir, dies seien die einzigen wirklich bewohnten Räume im ganzen Haus und dienten der Unterbringung von Xian, dem Chinesen, der »die Mietskasernen« kontrollierte. Ich mußte keine Miete zahlen, sondern sollte jedes Wochenende in den Mietskasernen, die zugleich Lager waren, arbeiten. Ich hatte ein Zimmer gesucht und Arbeit gefunden. Tagsüber wurden Wände eingerissen, abends Zement, Tapetenreste und Ziegel weggeräumt. Der Bauschutt wurde in normale Müllsäcke gefüllt. Der Lärm beim Einreißen der Wände war ungewöhnlich. Nicht wie das Einschlagen auf Stein, sondern als ob Gläser mit der Hand vom Tisch gefegt würden. Jede Wohnung wurde zu einem Lager ohne Zwischenwände. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Häuser, in denen ich gearbeitet habe, noch nicht eingestürzt sind. Nicht selten haben wir ganz bewußt tragende Mauern eingerissen. Die Waren hatten Vorrang, die Statik mußte weichen, um für die Produkte Platz zu schaffen.
    Die Idee, Kartons in Wohnhäusern unterzubringen, hatten einige chinesische Kaufleute entwickelt, nachdem die neapolitanische Hafenbehörde einer Delegation des amerikanischen Kongresses ihren Securityplan vorgelegt hatte. Er sah die Einteilung des Hafens in vier Abschnitte vor: für den Kreuzfahrtverkehr, für die Küstenschiffahrt, für die Fracht- und Containerschiffe, wobei für jeden dieser Abschnitte die besonderen Sicherheitsrisiken aufgelistet wurden. Um zu vermeiden, daß sich die Polizei nach der Veröffentlichung dieses Securityplans tatsächlich gezwungen sähe, aktiv zu werden, daß die Zeitungen sich allzu lange mit dem Thema beschäftigten oder irgendeine heimlich installierte Kamera aufsehenerregende Szenen aufnehmen könnte, beschlossen viele chinesische Unternehmer, alles noch mehr den neugierigen Blicken zu entziehen. Auch aufgrund gestiegener Kosten sollte die Präsenz der Waren noch weniger wahrne hmb ar sein. Man hätte sie in den Lagerhallen im Umland zwischen trostlosen Schuttabladeplätzen und Tabakfeldern unterbringen können, aber damit wären die Lastwagen nicht von der Bildfläche verschwunden. So dagegen fuhren nicht mehr als ein Dutzend bis unters Dach beladener Kleinlaster im Hafen ein und aus. Nach wenigen Metern waren sie in den Garagen der Mietskasernen verschwunden. In den Hafen hinein und wieder heraus, das genügte.
    Nichtexistente, kaum wahrnehmbare Bewegungen, die sich im alltäglichen Verkehrsgewühl verlieren. Gemietete Wohnungen. Entkernt. Untereinander verbundene Garagen, bis unter die Decke vollgestopfte Keller. Kein Hausbesitzer wagte sich zu beschweren. Xian hatte sie alle bezahlt. Miete und Entschädigung für die eigenmächtigen Veränderungen. Tausende von Kartons wurden in einem zur Lastenbeförderung umgebauten Aufzug hinauf geschafft. In einem Drahtkorb fuhr eine
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