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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Autoren: Roberto Saviano
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Plattform ununterbrochen auf und ab. Die Arbeit war auf wenige Stunden konzentriert. Die Auswahl der Kartons folgte genauen Regeln. Ich fing zufällig Anfang Juli an. Man kann bei dieser Arbeit gut verdienen, aber man muß dafür gut trainiert sein. Es herrschte eine unerträglich schwüle
    Hitze. Niemand wagte, einen Ventilator zu verlangen. Niemand. Nicht aus Angst vor Strafe oder aus anerzogener Unterwürfigkeit. Die Männer, die ausluden, kamen aus allen Winkeln der Erde. Aus Ghana, von der Elfenbeinküste, China, Albanien, aus Neapel, aus Kalabrien und Lukanien. Niemand verlangte etwas, denn alle wußten, daß die Waren nicht unter der Hitze litten, und das war Grund genug, kein Geld für Ventilatoren auszugeben.
    Wir stapelten Kartons mit Jacken, Regenmänteln, K-Ways, Baumwollpullis und Regenschirmen. Da ich gehört hatte, daß in diesen Lagerhäusern nicht Güter auf Vorrat gesammelt wurden, sondern nur Sachen, die unmittelbar auf den Markt geworfen werden sollten, schien es absurd, mitten im Sommer Kleider für den Herbst zu beziehen statt Badeanzüge, Bikinis und Sandalen. Doch die chinesischen Unternehmer hielten sich an die Vorhersage, daß der August kühl werden würde. Dabei kam mir die ökonomische Theorie in den Sinn, nach der sich z.B. der Preis einer Flasche Wasser ändert, je nachdem, ob sie in der Wüste oder nahe an einem Wasserfall angeboten wird. In jenem Sommer boten italienische Unternehmer Wasser nahe am Brunnen an, die Chinesen hingegen ließen Quellen in der Wüste sprudeln.
    Nach den ersten Arbeitstagen in den Mietskasernen übernachtete Xian bei uns. Er sprach fehlerfrei Italienisch, nur das R klang leicht wie ein V. Wie Toto in seinen Filmen die dekadenten Adeligen imitiert. Xian Zhu nannte sich Nino. Fast alle Chinesen, die in Neapel mit Einhei mi schen zu tun haben, nehmen einen neapolitanischen Namen an. Diese Gewohnheit ist so weit verbreitet, daß sich niemand mehr wundert, wenn sich ein Chinese als Tonino, Nino, Pino oder Pasquale vorstellt. Statt zu schlafen, verbrachte Xian Nino die Nacht damit, am Küchentisch zu telefonieren und ab und an fernzusehen. Ich hatte mich auf dem Bett ausgestreckt, konnte aber nicht einschlafen. Xian hörte nicht auf zu telefonieren. Die Worte kamen wie mit dem Maschinengewehr zwischen den Zähnen hervorgeschossen. Er schien zu sprechen, ohne auch nur durch die Nase Luft zu holen, wie ein Taucher. Außerdem hatten die Blähungen seiner Bodyguards die Wohnung mit einem süßlichen Geruch erfüllt, der bis in mein Zimmer drang. Nicht nur der Geruch selbst war ekelerregend, sondern auch die Bilder, die er aufsteigen ließ. Sich zersetzende Frühlingsrollen und von den Magensäften aufgelöster Kantonreis. Die anderen Mieter waren daran gewöhnt. Wenn die Tür zu war, schliefen sie seelenruhig. Mich dagegen ließ nicht in Ruhe, was vor meiner Tür passierte. Deshalb setzte ich mich in die Küche. Sie war für alle da, also auch für mich. Oder so hätte es zumindest sein sollen. Xian hörte auf zu reden und begann zu kochen. Er briet Hühnerfleisch an. Mir gingen unzählige Fragen durch den Kopf, die ich ihm stellen, Merkwürdigkeiten und Gemeinplätze, an denen ich kratzen wollte. Ich fing an, über die Triaden zu sprechen. Die chinesische Mafia. Xian briet weiter sein Huhn. Ich wollte Einzelheiten erfahren. Auch wenn sie nur symbolisch waren, natürlich erwartete ich keine Bekenntnisse über seine eigene Rolle. Ich zeigte, daß ich über das Wesen der chinesischen Mafia im allgemeinen gut informiert war, denn ich bildete mir ein, durch das Studium von Prozeßakten sei ein Bild der Wirklichkeit zu gewinnen. Xian stellte sein gebratenes Hühnerfleisch auf den Tisch, setzte sich und sagte nichts. Ich weiß nicht, ob er das, was ich erzählte, für interessant hielt. Bis heute habe ich nicht herausbekommen, ob er der Organisation angehörte. Er trank einen Schluck Bier, hob sein Hinterteil halb an, zog sein Portemonnaie heraus, fingerte, ohne hinzuschauen, darin herum und holte drei Münzen heraus. Er warf sie auf den Tisch und stoppte sie mit einem umgedrehten Glas auf der Tischdecke.
    »Euro, Dollar, Yüan. Da hast du meine Triade.«
    Xian wirkte glaubwürdig. Keine Ideologie dahinter, nichts von Symbolen und Begeisterung für Hierarchie. Profit, Business, Kapital. Das ist alles. Man neigt dazu, bestimmte Dynamiken als finstere Macht wahrzunehmen, und schreibt sie dann einem finsteren Wesen zu: chinesische Mafia. Diese Betrachtungsweise drängt alle
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