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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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unten im Frachtraum empfand der Golem eine unerwartete, wohlige Erleichterung.
    Das beständige Dröhnen der Schiffsschrauben verminderte sich zu einem Schnurren. Das Schiff wurde langsamer. Und dann hörte sie das ferne Geräusch von Stimmen, Schreie und Jubelrufe. Schließlich trieb die Neugier sie dazu, aus der Kiste aufzustehen, und sie trat in der mittäglichen Sonne aufs Vorderdeck.
    Auf dem Deck drängten sich die Menschen, und erst sah der Golem nicht, wem sie zuwinkten. Aber dann war sie da: eine graugrüne Frau, die mitten im Wasser stand, ein Tablett in der einen Hand und eine Fackel hocherhoben in der anderen. Ihr Blick war starr, und sie stand vollkommen reglos da. War sie auch ein Golem? Dann wurde ihr klar, wie weit entfernt und wie gigantisch groß die Frau war. Sie war also nicht lebendig; dennoch blickten ihre leeren, glatten Augen irgendwie verständnisvoll. Und die Leute auf dem Deck winkten ihr zu, jubelten und weinten, während sie lächelten. Das ist also auch eine gebaute Frau, dachte der Golem. Was immer sie den anderen bedeutete, sie wurde dafür geliebt und respektiert. Zum ersten Mal seit Rotfelds Tod verspürte der Golem so etwas wie Hoffnung.
    Das Schiffshorn tutete und brachte die Luft zum Vibrieren. Der Golem wandte sich ab, um in den Frachtraum zurückzukehren, und erst da sah sie die Stadt. Sie ragte riesengroß am Rand einer Insel auf. Die hohen breiten Gebäude schienen in Bewegung zu sein, in Reihen zu tanzen, während sich das Schiff näherte. Sie sah Bäume, Piers, einen Hafen, in dem kleinere Boote fuhren, Schlepper und Segelboote, die auf dem Wasser hüpften wie Insekten. Da war eine lange graue Brücke, die an einem Netz von Seilen hing und sich nach Osten bis zu einer anderen Küste erstreckte. Sie fragte sich, ob sie darunter hindurchfahren würden, doch stattdessen wandte sich der große Dampfer nach Westen und steuerte auf die Docks zu. Das Meer wurde zu einem schmalen Fluss.
    Uniformierte Männer gingen über das Vorderdeck und riefen:
Holen Sie Ihre Sachen. Wir werden bald in New York anlegen, und Sie werden mit der Fähre nach Ellis Island gebracht. Ihr Gepäck aus dem Frachtraum wird Ihnen dort ausgehändigt.
Erst nachdem sie diese Botschaft ein halbes Dutzend Mal gehört hatte, wurde dem Golem klar, dass die Männer sie in unterschiedlichen Sprachen wiederholten, und dass sie jede von ihnen verstand.
    Innerhalb von Minuten war das Deck menschenleer. Sie stellte sich in den Schatten der Kommandobrücke und dachte nach. Sie besaß nichts außer der Jacke, die ihr der Matrose geschenkt hatte; die dunkle Wolle erwärmte sich im Sonnenschein. Sie tastete in der Tasche nach dem kleinen Lederbeutel. Der war zumindest noch da.
    Ein paar Passagiere kamen die Treppe wieder herauf, und dann ganz viele, sie trugen Reisekleidung und hatten Taschen und Koffer in den Händen. Die uniformierten Männer begannen wieder zu rufen:
Bilden Sie eine ordentliche Reihe. Nennen Sie uns Namen und Staatsangehörigkeit. Kein Gedrängel. Achten Sie auf Ihre Kinder.
Der Golem stand unsicher ein Stück von den Leuten entfernt. Sollte sie sich auch anstellen? Sich irgendwo verstecken? Die Gedanken der Leute sprangen sie an, alle wollten Ellis Island so schnell wie möglich verlassen und brauchten dafür ein astreines Gesundheitszeugnis von den Ärzten.
    Einer der uniformierten Männer sah den Golem allein und zaudernd beiseite stehen und ging zu ihr. Ein Passagier hielt ihn auf, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es war der Doktor aus dem Zwischendeck. Der Uniformierte hatte einen Stapel Papiere dabei und blätterte suchend darin. Er runzelte die Stirn und ließ den Doktor stehen, der sich wieder in die Schlange einreihte.
    »Ma’am«, sagte der Mann und sah den Golem direkt an. »Bitte, kommen Sie her.« Um sie herum verstummten alle, als der Golem zu ihm ging. »Sie sind diejenige, deren Mann gestorben ist, ist das richtig?«
    »Ja.«
    »Mein Beileid, Ma’am. Wahrscheinlich ist es nur ein Versehen, aber Sie scheinen nicht auf der Liste zu stehen. Dürfte ich Ihre Fahrkarte sehen?«
    Ihre Fahrkarte? Sie hatte selbstverständlich keine Fahrkarte. Sie könnte lügen und sagen, dass sie sie verloren hätte, aber sie hatte nie zuvor gelogen und traute sich nicht zu, es glaubhaft zu tun. Ihr war klar, dass sie entweder schweigen konnte oder die Wahrheit sagen musste.
    »Ich habe keine Fahrkarte«, sagte sie und lächelte in der Hoffnung, dass es etwas nützen
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