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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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Hände unkontrolliert und ballten sich immer wieder zu Fäusten, während sie zusah, wie die Männer Rotfelds Haut zurückzogen und in seinem Inneren herumhantierten. Ihre Gedanken suchten nach ihrem Meister und fanden kein Bewusstsein, keine Bedürfnisse oder Wünsche. Sie verlor ihn, Stück für Stück.
    Der Arzt holte etwas aus Rotfelds Körper und ließ es in eine Schale fallen. »Das verdammte Ding ist raus«, sagte er und blickte über die Schulter. »Noch immer auf den Füßen? Braves Mädchen.«
    »Vielleicht ist sie einfältig«, murmelte der Assistent.
    »Nicht unbedingt. Diese Bauern haben Mägen wie Pferde. Simon, halt die Klammer zu.«
    »Tschuldigung, Sir.«
    Doch der Mann auf dem Tisch kämpfte um sein Leben. Er atmete einmal ein und dann noch einmal – bis der letzte Atemzug Otto Rotfelds Körper mit einem langen gurgelnden Seufzer verließ.
    Der Golem schwankte, als die Verbindung zu ihm endgültig riss und sich auflöste.
    Der Arzt horchte an Rotfelds Brust. Er nahm das Handgelenk des Mannes und legte es nach einem Moment wieder ab. »Todeszeitpunkt, bitte«, sagte er.
    Der Assistent schluckte und blickte auf den Chronometer. »Zwei Uhr und achtundvierzig Minuten.«
    Der Arzt notierte es mit bedauernder Miene. »Da war nichts mehr zu machen«, sagte er in bitterem Tonfall. »Er hat zu lange gewartet. Er muss seit Tagen starke Schmerzen gehabt haben.«
    Der Golem konnte den Blick nicht von der reglosen Gestalt auf dem Tisch wenden. Vor einem Augenblick noch war er ihr Meister gewesen, ihr Daseinszweck; jetzt war er nichts mehr. Ihr war schwindlig, als habe ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie trat vor und berührte sein Gesicht, den schlaffen Kiefer, die Augenlider. Seine Haut begann bereits zu erkalten.
    Bitte, hören Sie auf damit.
    Der Golem zog die Hand zurück und blickte zu den beiden Männern, die sie mit angstvollem Widerwillen beobachteten. Keiner von beiden hatte ein Wort gesagt.
    »Es tut mir leid«, sagte der Arzt schließlich und hoffte, dass sie seinen Tonfall verstehen würde. »Wir haben unser Bestes getan.«
    »Ich weiß«, sagte der Golem – und erst da wurde ihr klar, dass sie die Worte des Mannes verstanden und in derselben Sprache geantwortet hatte.
    Der Arzt runzelte die Stirn und wechselte einen Blick mit seinem Assistenten. »Mrs. … Es tut mir leid. Wie war sein Name?«
    »Rotfeld«, sagte der Golem. »Otto Rotfeld.«
    »Mein Beileid, Mrs. Rotfeld. Vielleicht –«
    »Sie wollen, dass ich gehe«, sagte sie. Es war keine Vermutung, ebenso wenig war ihr mit einem Mal aufgegangen, dass ihre Anwesenheit hier unangemessen war. Sie
wusste
es einfach so sicher, wie sie die Leiche ihres Meisters auf dem Tisch liegen sah und die ekelhaft süßlichen Ätherdämpfe roch. Der Wunsch des Arztes, sein Wunsch, sie möge gehen, war in ihrem Kopf laut geworden.
    »Nun, ja, das wäre vielleicht besser«, sagte er. »Simon, bitte begleite Mrs. Rotfeld zurück aufs Zwischendeck.«
    Sie ließ sich von dem jungen Mann den Arm umlegen und aus dem Operationssaal führen. Sie zitterte. Ein Teil von ihr suchte noch immer nach Rotfeld. Und gleichzeitig vernebelten das verlegene Unbehagen des jungen Mannes und sein Wunsch, sie los zu sein, ihre Gedanken. Was geschah mit ihr?
    An der Luke zum Zwischendeck drückte der junge Mann ihr schuldbewusst die Hand, und dann war er verschwunden. Was sollte sie tun? Hineingehen zu all diesen Menschen? Sie fasste mit der Hand nach dem Riegel der Luke, zögerte und öffnete sie.
    Die Wünsche und Ängste von fünfhundert Passagieren überfluteten sie wie ein Mahlstrom.
    Ich wünschte, ich könnte schlafen. Wenn sie nur aufhören würde, sich zu übergeben. Muss der Mann ununterbrochen schnarchen? Ich brauche ein Glas Wasser. Wie lange dauert es noch bis nach New York? Was, wenn das Schiff untergeht? Wenn wir allein wären, könnten wir uns lieben. O Gott, ich will zurück nach Hause.
    Der Golem ließ den Riegel los, drehte sich um und lief davon.
    Oben auf dem verlassenen Hauptdeck fand sie eine Bank, auf der sie bis zum Morgen sitzen blieb. Es begann zu regnen, und die kalten Tropfen durchnässten ihr Kleid, aber sie achtete nicht darauf, weil sie sich auf nichts konzentrieren konnte außer auf den Lärm in ihrem Kopf. Ohne Rotfelds Befehle, die sie leiteten, suchte ihr Geist offenbar nach einem Ersatz und stieß auf die achthundert Passagiere unter ihr. Da keiner von ihnen ihr Meister war, hatten ihre Wünsche und Ängste nicht die Macht
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